Rom und Varanasi waren beides heilige Städte. Was Rom für die katholische Christenheit war, bedeutete Varanasi für die Hindus. Die Stadt galt als eine der ältesten der Menschheit. Es gab unzählige Tempel und reich geschmückte alte Maharadscha-Paläste. Und wie in Rom wurden seltsame religiöse Kulte praktiziert: Jeden Tag kamen zehntausende indische Touristen hierher, ließen sich den Kopf kahl scheren und nahmen anschließend ein rituelles Bad im heiligen Fluss Ganges, das damit endete, dass sie ein paar Schlucke aus dieser Kloake tranken, die im Himalaja entsprang und auf ihrem Weg über Kalkutta bis zum Meer so viel Abwässer und Chemie in sich aufnahm, dass sie bis Varanasi mindestens zweimal umgekippt war. Das störte aber kaum jemanden, denn der Fluss war doch heilig. Und wie kann heiliges Wasser jemandem etwas anhaben?
Viele der Alten, die als Pilger die Stadt erreichten, blieben deshalb gleich hier und bevölkerten fortan als Bettler die Stufen hinunter zum Wasser. Denn wer in Varanasi starb, am Ufer des Ganges verbrannt wurde und wessen Asche dann im Fluss zerstreut wurde, der erfuhr Moksha, die Erlösung: Er konnte das leidvolle Rad des Lebens und der Wiedergeburten sofort verlassen. Da machte es natürlich auch nichts, wenn man an dem Wasser starb, das man aus dem Ganges getrunken hatte.
Die Treppen hinunter zum Fluss glichen einer Theaterbühne, gegeben wurde ein Stück aus der Gegenwart mit mittelalterlicher Kulisse. Zur Bühnenausstattung gehörten die Zinnen der Paläste, die bunten Tücher der Pilger, die Rezitationen der Brahmanen, das Glockengeläut der Tempel, die ausgestreckten Arme der Sadhus – der Bettelmönche – und die zeternden Litaneien der zahnlosen Alten, die auf den Tod warteten. Kein modernes Geräusch, schon gar kein Autolärm drang bis hierher. Automobile passten nicht in die engen, jahrhundertealten Gassen der Altstadt, die dem Ufer vorgelagert war.
Das Stück, das hier jeden Tag aufgeführt wurde, handelte von Geld und Moral, von Täuschung und Neid und von Naivität und Betrug, wie man es überall auf der Welt erleben konnte. Nur war hier alles ungleich pittoresker und auch etwas grausamer.
Wie in allen heiligen Orten der Religionen, sei es Rom, sei es Mekka, sei es Jerusalem, Salt Lake City oder eben Varanasi, ließ sich viel Geld hier verdienen. Die örtliche Mafia beherrschte zusammen mit den Politikern die Geschäfte. Oder andersherum: Die Politiker waren zugleich auch alle Mafiosi. Beiden kam man besser nicht in die Quere, dann konnte man ein angenehmes Leben in dieser Stadt führen. So viel wusste Arnold bereits. Schon für 40 000 Rupien, umgerechnet etwa 500 Euro, so hieß es, finde man hier einen Auftragsmörder.
Auf der anderen Seite des Ganges versank die Sonne rasch hinter dem Horizont. Wie immer hatte sich auf den Stufen des Assi Ghats ein guter Teil der bunten Ausländergemeinde des Viertels, die hier die milden Wintermonate verbrachte, zum Sonnenuntergang versammelt. Nicht wenige der Frauen und Männer aus Deutschland, Italien, den USA oder Israel kamen wie indische Sadhus daher, mit Dreadlocks, Baumwolltüchern um die Hüften und einer Lota, einem verschließbaren, metallenen Essensgefäß mit Henkel in der Hand, in dem sie Wasser oder Milch transportierten. So ausgestattet wurden sie von indischen Touristen in westlicher Straßenkleidung und mit Mobiltelefonen in der Hand begafft.
Die Sadhus selbst, von denen einige wiederum nur Bettler waren, andere aber Gurus mit weltweiter Anhängerschaft, trugen zwar noch ihre Lota und ihre Shiva-Dreizacke wie eine Reminiszenz an alte Zeiten, spielten ansonsten aber am liebsten an ihren Smartphones herum, mithilfe derer sie ihre Facebookseiten pflegten.
Einige der Westler unterhielten sich miteinander, andere betrachteten schweigend den träge dahinziehenden Fluss und das Abendrot. Joints gingen herum, weiter unten in einer geschützten Mauerecke sogar Shillums. Leises Gelächter drang herauf.
Arnold blieb meistens für sich. Er kiffte nie mit, weil er Angst hatte, sich unter Drogeneinfluss oder allzu viel menschlicher Nähe zu verplappern. Das konnte er sich nicht leisten. Seine Geschichte würde ihm zwar sowieso niemand glauben, aber wer weiß, welche Kreise sie ziehen würde. Die Welt war manchmal auch nur ein Dorf. Trotzdem glaubte er sich hier zunächst einmal in Sicherheit. So schnell würden sie ihn hier schon nicht finden. Wenn sie ihn überhaupt noch suchten.
Na ja, da brauchte er sich wohl keine Illusionen zu machen.
Andererseits: Wenn ihm sowieso keiner glauben würde und er die Geschichte besser auch gar nicht erst erzählen sollte, weil er sonst am Ende nur in der Psychiatrie landen würde – was wollten sie denn dann noch von ihm?
Er schnaubte leicht und verzog den Mund zu einer Art Lächeln. Wie oft hatte er diese Gedanken schon durchgekaut? Natürlich würden sie nach ihm suchen. Sie überließen nie etwas dem Zufall. Und sie hatten Zeit. Sehr viel Zeit.
Ach ja, die Zeit ...
Auch so eine Fiktion der Menschen.
Arnold holte sich einen neuen Chai und gab dem Betreiber der mobilen Teeküche zwei Rupien in die Hand.
Die „Küche“ bestand nur aus ein paar Brettern, die auf Holzkisten gelegt wurden, und einem Kerosinkocher. Sie wurde allabendlich wieder abgebaut und alle dazugehörigen Utensilien wurden einer hölzernen Truhe verschlossen, die an ihrem Platz unterhalb des Shiva-Tempels und der Pizzeria stehen blieb. Trotzdem war dieser Laden mit Sicherheit eine Goldgrube. Der Eigentümer, ein beleibter Mann um die fünfzig mit dem obligatorischen Schnurrbart, beschäftigte drei Angestellte, zwei Jungs und einen alten Mann.
Arnold musste den Tonbecher am Rand anfassen, so heiß war der gewürzte Milchtee. Er nickte auf dem Rückweg zu seinem Platz Rudi zu, der sich ein Stück weiter oben mit zwei Einheimischen unterhielt. Der Schweizer Indologe war eine seiner wenigen näheren Bekanntschaften hier. Dann setzte er sich wieder auf die schmutzigen Stufen und stellte vorsichtig den Becher neben sich ab.
Sein Blick fiel auf die zusammengefaltete Zeitung zu seinen Füßen. Es war seltsam, dachte er zum wiederholten Mal, an einer Affäre beteiligt gewesen zu sein, welche die Welt, zumindest die westliche, sicher ein paar Wochen lang bewegt hätte – wenn sie denn davon erfahren hätte. Die Zutaten waren schließlich genau die richtigen dafür: ein paar Tote, ein uralter Pakt und sehr, sehr viel Mammon.
Ausgerechnet Karlsruhe. Arnold saß in Varanasi am Ganges und schüttelte beim Gedanken daran immer noch den Kopf. Seine Heimatstadt, die als eine der langweiligsten Städte Deutschlands galt, spielte eine Hauptrolle in diesem Stück. Das geheimnisvolle Karlsruhe. Es kam ihm immer noch absurd vor. Es war so absurd, dass es schon wieder zum Lachen war.
Na ja, nicht ganz.
Kurz vor seiner überstürzten Flucht aus Deutschland hatte er sich in Frankfurt noch einen Pass mit falschem Namen besorgt. Das war überhaupt nicht schwer gewesen und hatte nur eine Nacht gedauert. Unter dem Namen Markus Heinze arbeitete er nun als Fremdenführer für eine Münchner Firma, die Bildungsreisen veranstaltete. Er erklärte den Touristen die Tempel Varanasis, die Altstadt und die religiösen Rituale am Ganges. Eine leichte Arbeit, er hatte sich schnell eingelesen ins Thema und lernte zügig Hindi. Es ist eine junge Sprache und deshalb sehr logisch. Es gibt kaum Ausnahmen von der Regel, die einzige Schwierigkeit ist, dass manche Laute für Europäer nur schwer auszusprechen sind. Sich in Indien einzuleben, war ihm ebenfalls nicht schwer gefallen. Er war ja beileibe nicht zum ersten Mal hier.
Ein Fremdenführer. Das hätte er sich auch nicht träumen lassen. Mit einer Führung der etwas anderen Art durch seine Heimatstadt Karlsruhe hatte die Geschichte im letzten Herbst ganz harmlos angefangen. So schloss sich der Kreis.
Arnold lächelte still vor sich hin und nahm noch einen Schluck von der süßen, mit Ingwer und Kardamom gewürzten Brühe in seinem Becher.
Er wusste nicht, was aus seiner Wohnung und der Werkstatt in Berlin geworden war. Er hatte sich nicht getraut, dort jemanden anzurufen. Sie waren bestimmt auch dort gewesen.
Wahrscheinlich war alles längst gekündigt und aufgelöst, seine Einrichtung auf den Müll gewandert,