Ich sann noch über diese Dinge nach, während Richtenfels längst in der Hütte verschwunden war, als plötzlich der eben abgewiesene Geheimrat Stadelmann neben mir stand.
„Junge“, er beugte sich vertraulich zu mir, so daß der Regen von seinem Hut herunterlief. „Du sollst doch künftig für den Richtenfels arbeiten, ist das richtig?“
Ich nickte und zitterte ein wenig, weil mir die Nässe mittlerweile gänzlich unter die Haut gekrochen war.
„Erstatte mir doch gelegentlich Bericht darüber, was der Herr Richtenfels so spricht und was er für Pläne hat. Dein Schaden soll es nicht sein.“
Sein Atem roch sauer nach dem Wein und dem Braten, den er wohl zu Mittag zu sich genommen hatte. Er atmete schwer und suchte meinen Blick. Trotz des Wetters schien er unter seiner Perücke zu schwitzen, denn er kratzte sich dauernd den Kopf, wobei dieselbige verrutschte und verklebtes, dünnes Kopfhaar zum Vorschein kam.
„Irgendwann wird der Herr Richtenfels auch wieder fort aus der Markgrafschaft sein, eher früher als später, wie ich meine.“ Stadelmann grinste grimmig. „Du aber willst doch sicher bleiben und hier außerdem noch etwas werden, wie ja jeder weiß – oder, Herr Arnold?“
Ich nickte wieder.
„Sicher, Herr Geheimrat.“
„Dann warte ich auf deinen Rapport. Ich bin jeden Montagabend im Waldhorn. Punkt 20 Uhr nehme ich dort mein Abendessen, eine Stunde später verlasse ich die Gaststätte für einen kleinen Spaziergang. Den, würde ich vorschlagen, unternehmen wir künftig gemeinsam. Du wartest auf mich am Waldesrand. Es muß uns ja nicht unbedingt jemand zusammen sehen. Und wenn doch, bin ich dein wohlwollender Förderer, der dich, der du ja für höhere Aufgaben berufen scheinst, in die Staatsgeschäfte einweist. So hast du künftig gleich zwei Förderer.“
Stadelmann lachte, er fand das wohl ein gelungenes Bonmot, und hielt mir die Hand hin.
„Abgemacht?“
Das war in Wirklichkeit natürlich keine Frage. Sein kalter Blick sagte mir genug. Ich hatte keine andere keine Wahl, als einzuschlagen.
Ich reichte ihm die Hand, dann ging ich zu Fuß zurück nach Durlach, nach Hause. Heinrich und Carl ließ ich mit dem Fuhrwerk alleine zurückfahren. Ich mußte nachdenken.
Heute Mittag noch hatte ich gehofft, eine große Chance zu erhalten. Jetzt fühlte ich mich beinahe, als hätte mir jemand die Hand an die Gurgel gelegt.
Lukas Arnold senkte das letzte Blatt und legte es auf den alten Küchentisch mit den gedrechselten Beinen, an dem er saß. Sein Blick fiel aus dem Fenster, auf das Haus gegenüber, einen Bau aus den zwanziger Jahren mit gelber Klinkerfassade. Im Zimmer war es stickig, doch vor dem Haus hatten sie die Straße aufgerissen, ein Presslufthammer dröhnte. Er ließ das Fenster lieber zu. Es roch nach Staub.
Zum Glück lebe ich heute und nicht damals, dachte er.
Lange hatte er die fünf eng beschriebenen Seiten nicht mehr in der Hand gehabt. Er konnte die Handschrift nur schwer entziffern. Das Papier war zwar fest, aber vergilbt und fleckig, die Zeilen waren mit Tinte in einer altertümlichen Schrift verfasst. Die Buchstaben waren reichlich verschnörkelt. Es sah aus, als habe der Autor seinen Sätzen dadurch zusätzliche Bedeutung verleihen wollen.
„Unbestellte Kunst-Mahlerey.“ Arnold grinste.
Als Lukas Arnolds Großmutter gestorben war, hatte ihm der Nachlassverwalter, ein Karlsruher Notar, die Blätter überreicht. Sie befanden sich in einer Mappe mit dem Testament und ein paar anderen Dokumenten. Es handelte sich offensichtlich um eine Art Tagebuch eines Vorfahren namens Johann Christoph Arnold, das dieser zur Zeit der Stadtgründung geführt hatte. Es gab allerdings keine weiteren Blätter. Entweder hatte sein Vorfahr das Tagebuchschreiben schnell wieder aufgegeben oder der Rest war im Lauf der Jahrhunderte verloren gegangen.
Arnold hatte dem nie größere Aufmerksamkeit geschenkt. Sicher, das Fragment klang interessant, aber was sollte er damit anfangen?
Sein Großvater hatte nur abgewunken, wann immer das Gespräch auf seine Ahnen oder die Stadtgeschichte kam: „Lasst doch die alten Sachen ruhen, das interessiert doch niemanden.“ Sätze, wie man sie auch regelmäßig von alten Leuten über die Nazizeit zu hören bekam – sofern sie nicht zu den Opfern gehört hatten. Seine Großmutter, die ganz gerne über die Familie und deren Verbundenheit mit Karlsruhe sprach, hatte nach Opas Verdikt immer geschwiegen.
Seine Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er anderthalb Jahre alt war. Geschwister hatte Lukas Arnold keine. Seine Großeltern hatten ihn nach dem Tod der Eltern zu sich genommen und aufgezogen.
Das alles war schon so lange her. Arnold fühlte keine Leerstelle in sich, was seine Eltern betraf. Er hatte keinerlei Erinnerungen an sie. Seine Großeltern waren eben seine Eltern gewesen.
Die eine oder andere Freundin hatte ihm mal zu einer Therapie geraten, um das alles „aufzuarbeiten“, aber das hatte er dankend abgelehnt. Warum ein Trauma aufbauen, wenn er gar keines verspürte?
Ja ja, Verdrängung und so. Eine ganze gutverdienende Armee von Therapeuten verdiente daran. Aber verglichen mit Kindern, die in indischen Großstädten auf der Straße aufwuchsen, waren das Luxusprobleme. Bullshit!
Nur seine Großmutter vermisste er.
In der Grundschule war Arnold ein Überflieger gewesen. Als er dachte, im Gymnasium ginge das gerade so weiter, täuschte er sich und rutschte schnell ab. Dass gute Noten gelegentlich durchaus mit intensivem Lernen verbunden waren, war ihm zwar klar, er lernte es trotzdem nicht mehr. Das, so fand er bis heute, hatte auch an seinen Lehrern gelegen, von denen einige pathologische Fälle gewesen waren.
Vor allem die Lateinlehrer – er war auf ein humanistisches Gymnasium gegangen – hatten sich dabei hervorgetan. Einer hatte einem Schüler einmal vor Wut einen offenen Füller in den Mund gestoßen. Ein anderer drohte immer, wenn er wütend war: „Ich spring gleich aus dem Fenster.“ Obwohl sich ihr Unterrichtsraum damals im ersten Stock befand, hatte er das zum Leidwesen der Klasse nie in die Tat umgesetzt.
Immerhin, mit einem seiner Mathematiklehrer hatte Arnold sogar einmal richtig Geld verdient. Irgendeine Illustrierte, die seine Großmutter las, forderte ihre Leser auf, die „besten“ Lehrersprüche einzuschicken. Fünfundzwanzig Mark sollte es pro abgedrucktem Spruch geben. Von seinem Mathelehrer hatte man gleich zwei genommen. „Wachet auf, Ihr Kinderlein! Das steht im Gesangbuch.“, hieß der eine. Der andere war ein unvergesslicher Dialog mit Harald Grauberger, der dann nach der neunten Klasse auf die Realschule wechseln musste: „Das ist ja ganz schlecht, was du da bietest! Was hast du letztes Jahr in Mathematik gehabt?“ – „Eine Fünf.“ – „Und du bist nicht sitzen geblieben.“ – Kopfschütteln. – „Nun, das wird sich dieses Jahr ändern.“
Der Lehrer war schon alt. Man hatte ihn wegen Fachkräftemangels aus dem Ruhestand zurückgeholt. Er sah so schlecht, dass er ein an der Rückwand des Klassenzimmers hängendes Handtuch mit einem Schüler in der letzten Reihe verwechselt hatte. „Meyer, setz dich endlich hin!“, hatte er gerufen, worauf der empört erwidert hatte: „Aber ich sitze doch.“ Er trug mit Vorliebe hellbraune Rollkragenpullover und schwitzte viel, so dass sich unter den Achseln auf dem hellen Stoff tellergroße Schweißflecken abzeichneten, die auch entsprechend rochen, wie die Schüler aus der ersten Reihe berichteten.
Na ja, Schule.
Ein Jahr, nachdem sein Großvater gestorben war, kurz vor seinem 21. Geburtstag, verließ Arnold Karlsruhe und zog nach Berlin. Es waren die 90er-Jahre, er ging gleich in den Osten, wo immer noch ein großes Stück vom wilden Nachwende-Berlin übrig war, wenn es auch von allen Seiten fleißig weggeknabbert wurde. Er zog in eine WG ein, die eine Fabriketage in Friedrichshain bewohnte, und stürzte sich ins Nachtleben. Sein Studium der Politik und Geschichte, für das er sich an der Freien Universität eingeschrieben hatte, vernachlässigte er schon nach einem Semester. Stattdessen fing er an, bei einem Kreuzberger Trödler