Cockers Kunst war die Songveredelung dank seiner an Reife und Klasse noch immer hinzugewinnenden Stimme. Ich liebe es, wenn sich seine Stimme dem expressiven Höhepunkt eines Songs näherte, etwa in „Shelter Me“, oder sich sein Rückgrat bei „Unchain My Heart“ manchmal weit zurückbog bzw. er mit den Armen bei „You Are So Beautiful“ langsam nach hinten ruderte, als suchten sie dort im Ungefähren für den ganzen Körper Halt. Das waren keine theatralischen Gesten. Die röhrende, mitunter sich markerschütternd aufbäumende Stimme bemächtigte sich dann dieses Körpers, und Joe Cocker wirkte für einen Augenblick so ergriffen und zugleich so hilflos, als packte ihn noch einmal das Verhängnis höchstselbst am Kragen.
Beschreibungen dieser Art spiegeln eigentlich das gesamte Leben Joe Cockers wider. Er war kein Intellektueller, der sich der Macht der Worte bediente, um sich zu wehren. Cocker schrie. Auf der Bühne. Im Gespräch hingegen war er ruhig. In den frühen 80ern war er noch ruhiger gewesen als später. Zwischenzeitlich wirkte er geläutert, routiniert im Umgang mit den Worten, die er sich auf immer wiederkehrende Fragen von Journalisten, gut vorbereitet, zurechtlegte. Cocker war auch kein Frauenheld. Cockers Laster trugen keine Frauennamen, sondern hießen LSD, Marihuana, Heroin und Alkohol. Und er war es leid, darauf angesprochen zu werden, nachdem er vor Jahren schon all diesen abgeschworen hatte. Seine Aussprache war seither um ein Vielfaches deutlicher gewesen.
Man merkte Joe Cocker, wenn man ehrlich ist, seine kleinbürgerliche Herkunft aus der nordenglischen Stahlmetropole Sheffield bis zuletzt noch ein wenig an. Aber Joe Cocker war ein Überlebender seiner eigenen Geschichte geworden – und er war sich dessen bewusst. Wenn irgendetwas zählt, dann ist es das Überleben, auch wenn man schwach ist, in einer der härtesten Branchen unserer Zeit. Joe Cocker war, seitdem er mit 16 die Schule verlassen hatte, genau das gelungen: zu überleben! Den weltweiten Erfolg überlebt zu haben, das war Joe Cockers Geschichte.
Am 22. Dezember 2014 ist Joe Cocker an den Folgen eines kleinzelligen Lungenkrebses auf seiner Farm in Crawford/Colorado, USA im Familienkreise gestorben. Damit verlor die Welt einen Ausnahmekünstler, den sie genauso wie seine von ihm veredelten Lieder nie vergessen wird.
Joe Cocker wurde einmal gefragt, wo seine Seele nach seinem Tod ruhen solle. Er sagte „überall“ und erinnerte an eine Geschichte, die ihm einmal ein Mann aus Australien erzählt hatte: „Eine Seele ruht überall, weil sie ja aus allem besteht, was in einem Leben geschehen ist.“ Außerdem hatte er gesagt: „Joe, Du hattest kein gutes oder schlechtes Leben. Du hattest ein Leben!“
Prof. Dr. Christof Graf
Zweibrücken, im Januar 2015
Joe Cocker wusste, was es heißt, wie ein Phönix aus der Asche aufzuerstehen. Schon in den 70ern galt er als „der neue Star“ im Rockbusiness. Janis Joplin, Jimi Hendrix und Jim Morrison waren bald tot, Joe Cocker jedoch lebte. Aber ebenso wie die Mitglieder des berühmten „Club 27“ war auch er in Gefahr, zur tragischen Figur zu werden und zu sterben. Nach seiner durch den Woodstock-Auftritt steil aufsteigenden Karriere und einigen Hits, auf welche er mit einem ausschweifenden Leben ganz im Sinne der vielzitierten Mentalität „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ reagierte, beschrieben ihn die Medien schnell als hochgradig Gefährdeten. Sie machten ihn damit aber zu früh zum ausgebrannten Star, brachen zu früh den Stab über ihn. Denn es folgten Jahre voller Höhen und Tiefen, es gab Triumphe, aber auch Misserfolge. Und nach über fünf Jahrzehnten im Musikgeschäft war Joe Cocker immer noch einer der erfolgreichsten und bekanntesten Sänger weltweit. Viele seiner insgesamt nunmehr offiziell 22 Studio- und drei Live-Alben erreichten Platin-Status, und er wurde mit zahllosen Awards wie dem Grammy, dem Golden Globe und dem Academy Award ausgezeichnet und erhielt zudem von der Queen den Order of the British Empire. Kurzum: John Robert „Joe“ Cocker, der am 20. Mai 1944 in der einstigen englischen Stahlmetropole Sheffield geboren wurde, galt 70 Jahre später als ein „Elder statesman des Rock’n’Roll“, als der weiße Soul-, Blues- und Rocksänger mit der schwärzesten Stimme, vor allem aber galt er als „Überlebender“. Was ihn zu all dem machte? Seine Stimme!
Seit Mitte der 90er-Jahre war Joe „the real voice“ Cocker von den großen Veranstaltungsorten dieser Welt nicht mehr wegzudenken. Für eine „Stimme“ ist die Bühne der beste Ort, um sich auszuleben. Live zu spielen ist wahrscheinlich auch das, was Cocker am meisten genoss und auch immer schon genossen hatte. Auf seiner letzten Welttournee 2013 etwa spielte er vor ausverkauften Häusern rund um den Globus, sogar in Südamerika.
Eine ganze Generation wollte in Woodstock die Utopie von Liebe und Frieden in schiere Realität überführen, und mit der seelenvollen Interpretation des Beatles-Klassikers „With A Little Help From My Friends“ unterstrich Cocker, dass diese Vision von Liebe ohne brüderliche Solidarität nur unvollständig wäre.
Aber schon mit Beginn der siebziger Jahre war der Traum ausgeträumt. Trotz Hendrix’ symbolischer Intervention „Star Spangled Banner“ wurden in Vietnam weiterhin Menschen getötet, und am 18. September 1970 starb Hendrix schließlich. Janis Joplin und Jim Morrison folgten ihm am 4. Oktober 1970 bzw. am 3. Juli 1971 nach. Joe Cocker wurde währenddessen und im Rahmen seiner berühmt-berüchtigten „Mad Dogs & Englishmen“-Tournee in 56 Tagen durch 48 amerikanische Städte gescheucht; er kam von dieser Tour mit ganzen 862 Dollar und einem Nervenzusammenbruch zurück. Es grenzt fast an ein Wunder, dass der „Underdog“ damals nicht auch starb. Das verdankte er neben seinen Eltern (bei denen er – immer wieder einmal – kurzfristig untertauchen konnte) wohl auch seiner nie gebrochenen Liebe zum Leben und zur Musik.
Joe Cocker kehrte nach der „Mad Dogs“-Odyssee 1972 ins Showbusiness zurück, lernte aber die ganzen siebziger Jahre hindurch weiterhin vor allem die Tiefen dieses Geschäfts kennen. Erst im Laufe der nächsten Dekade und eben „with a little help from my friends“ reifte er schließlich zur Persönlichkeit, die einen hochexpressiven Artisten und einen endlich ausgeglichenen und befriedeten Privatmenschen in sich vereinte. In den letzten Jahren lebte er zurückgezogen mit seiner Frau Pamela in seiner Wahlheimat Kalifornien oder fand auf seiner Farm in Colorado seine innere Harmonie.
Zur kreativen Blütezeit der Rockmusik oft abgeschrieben oder gar totgesagt, war dieser immer wieder auferstandene Selfmademan vom Dienst also auch im neuen Jahrtausend weitaus lebendiger (und authentischer) als die zeitgenössische Rockmusik selbst.
Die Zeit der großen klassischen Komponisten und Rock-Autoren scheint im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu Ende zu gehen. Kollaborateure und Weggefährten sterben. Johnny Cash am 12. September 2003 und Lou Reed am 27. Oktober 2013. John Lennon, dem Joe Cocker seine größten Coverversionen verdankte, verstarb schon am 8. Dezember 1980. Cockers größtes musikalisches Vorbild Ray Charles am 10. Juni 2004. Andere „friends along his way“ begleiteten Cocker hingegen in den Olymp der sogenannten „Elder statesmen“ des Rock. Eric Clapton wurde am 30. März 2014 69 Jahre alt, Mick Jagger am 26. Juli 71, Paul McCartney am 18. Juni 72, Bob Dylan am 24. Mai schon 73. Noch ehrwürdigere Ikonen wie Leonard Cohen, der Singer-Songwriter, aus dessen Repertoire Cocker gleich drei Songs veredelte und zu Hits machte, wurden 2014 gar 80 Jahre alt.
Joe Cocker indes durfte sich mehr denn je als ein Überlebender fühlen, der getreu der Maßgabe vorging: „It’s the singer, not the song.“ Und er war in der Tat einer der Größten unter den Interpreten. Der Grund dafür lag eben sicherlich in seiner einzigartigen Stimme. Selbst Cockers großes Vorbild Ray Charles zollte ihm dafür Bewunderung. Cocker galt als berühmteste weiße Bluesstimme, und die NEW YORK TIMES wählte ihn sogar einmal zum „besten männlichen Rocksänger“. Aber da war noch etwas, denn Joe Cocker war einer der ganz wenigen Popkünstler, die trotz ihres Erfolgs quer durch alle Generationen dezidiert nicht die Rolle des Seelentrösters ausfüllten. „Dafür liefert Cocker seinen Fans eine Ahnung von emotionalen Exzessen, die ihnen ihr eigenes Leben vorenthält“, analysierte Wolfgang Hobel schon Anfang 1990 treffend in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.