»Haben Sie einen Maulschlüssel?«, fragte Winston und versuchte, den Schraubring am Kniestück zu drehen.
»Einen Maulschlüssel«, sagte Mrs Parsons und wirkte verunsichert. »Weiß nicht genau. Ob die Kinder vielleicht –«
Getrampel von Stiefeln und ein weiterer Tusch auf dem Kamm kündigten die Kinder an, die nebenan ins Wohnzimmer stürmten. Mrs Parsons brachte den Maulschlüssel. Winston ließ das Wasser ablaufen und entfernte angewidert den Pfropfen aus Haaren, der das Abflussrohr verstopft hatte. So gut es ging, wusch er sich die Hände unter dem kalten Wasser aus der Leitung und ging in den anderen Raum zurück.
»Hände hoch!«, schrie eine wilde Stimme.
Ein hübscher, zäh wirkender Junge von neun Jahren war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit einer Spielzeugpistole, während die kleine Schwester, die etwa zwei Jahre jünger sein mochte, dieselbe Handbewegung mit einem Stück Holz machte. Beide trugen blaue Shorts, graue Hemden und rote Halstücher, wie es die Uniform der Spione vorsah. Winston hob die Hände über den Kopf, aber mit gewissem Unbehagen, da der Junge sich so böse gebärdete, dass es nicht mehr nur ein Spiel war.
»Du bist ein Verräter!«, schrie der Junge. »Bist ein Gedankenverbrecher! Bist ein eurasischer Agent! Ich knall dich ab, ich vaporisier dich, ich schick dich in die Salzminen!«
Plötzlich sprangen beide um ihn herum und schrien »Verräter!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Mädchen seinen Bruder mit jeder Bewegung imitierte. Irgendwie war das ein wenig beängstigend, ganz so, als tollten Tigerjunge herum, die schon bald groß sind und Menschen fressen werden. In den Augen des Jungen lag eine Art berechnende Wildheit, ein unverhohlenes Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und auch das Wissen, bald groß genug zu sein, um all das tun zu können. Bloß gut, dass er keine echte Pistole in der Hand hielt, dachte Winston.
Mrs Parsons’ Augen huschten nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. Im helleren Licht des Wohnzimmers stellte er interessiert fest, dass sich tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts abgelagert hatte.
»Die können ganz schon Krach machen«, meinte sie. »Sind enttäuscht, weil sie nicht bei der Hinrichtung zusehen können, das wird’s sein. Hab zu viel zu tun, kann nicht mit ihnen hingehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«
»Warum können wir nicht das Hängen sehen?«, brüllte der Junge.
»Wollen Hängen sehen! Wollen Hängen sehen!«, skandierte das Mädchen und sprang immer noch herum.
Einige eurasische Gefangene, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten, sollten am Abend im Park gehängt werden, wie Winston einfiel. Das geschah etwa einmal im Monat und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder forderten immer lautstark ein, dass man sie dorthin mitnahm. Winston verabschiedete sich von Mrs Parsons und ging zur Wohnungstür. Er war noch keine sechs Schritte den Flur hinunter gegangen, als ihn etwas im Nacken traf, ein furchtbar schmerzhafter Schlag. Ihm war, als hätte ihm jemand einen rotglühenden Draht ins Fleisch gebohrt. Als er herumfuhr, sah er gerade noch, wie Mrs Parsons ihren Sohn von der Tür in die Wohnung zurückzerrte, während der Junge eine Schleuder in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
»Goldstein!«, brüllte der Junge noch, als die Tür ins Schloss fiel. Doch was Winston am meisten erschütterte, war der Ausdruck hilfloser Furcht, der sich auf dem gräulichen Gesicht der Frau abzeichnete.
Zurück in der Wohnung, huschte er am Telemonitor vorbei und setzte sich wieder an den Tisch, wobei er sich immer noch den Nacken rieb. Die Musik aus dem Telemonitor war verstummt. Stattdessen verlas eine abgehackt sprechende, militärisch geschulte Stimme mit einer Art grausamer Freude eine Beschreibung von der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die kürzlich zwischen Island und den Färöer-Inseln vor Anker gegangen war.
Mit diesen Kindern, dachte er, führte diese bedauernswerte Frau offenbar ein Leben in Angst. Ein Jahr noch, vielleicht auch zwei, und die beiden würden sie Tag und Nacht im Auge behalten, ob sie der Partei auch treu war. Heutzutage waren fast alle Kinder furchtbar. Am schlimmsten war jedoch, dass sie durch Organisationen wie die Spione systematisch in unbezähmbare kleine Wilde verwandelt wurden, und trotzdem rief das in ihnen kein Verlangen hervor, gegen die Parteidisziplin zu rebellieren. Im Gegenteil, sie bewunderten die Partei und alles, wofür sie stand. Die Lieder, die Umzüge, die Banner, die Wanderungen, der Drill mit Übungsgewehren, das Brüllen von Parolen, die Verehrung des Großen Bruders – für die Kinder war all das ein tolles Spiel. Die ganze ungestüme, wilde Energie der Kinder wurde nach außen gerichtet, gegen die Staatsfeinde, gegen Fremde, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Für Leute über dreißig war es fast normal, Angst vor den eigenen Kindern zu haben. Und das aus gutem Grund, verging doch kaum eine Woche, in der die Times nicht einen Artikel darüber brachte, wie irgendeine kleine neugierige Petze – »Kinderheld« lautete die gängige Phrase – eine kompromittierende Bemerkung belauscht und daraufhin die eigenen Eltern bei der Gedankenpolizei denunziert hatte.
Der Schmerz von dem Geschoss der Schleuder hatte nachgelassen. Halbherzig griff Winston zum Federhalter und fragte sich, ob es noch irgendetwas gab, das er ins Tagebuch schreiben könnte. Plötzlich musste er wieder an O’Brien denken.
Vor Jahren – wie lange mochte das her sein? Vermutlich sieben Jahre – hatte er geträumt, er gehe durch ein stockdunkles Zimmer. Und im Gehen hatte ihn jemand, der dort saß, von der Seite angesprochen: »Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt.« Die Stimme sprach sehr ruhig, beinahe beiläufig – eine Feststellung, keine Aufforderung. Er war einfach weitergegangen, ohne zu zögern. Eigenartig war nur, dass die Worte damals, im Traum, keinerlei Eindruck bei ihm hinterlassen hatten. Erst später und ganz allmählich hatten sie anscheinend an Bedeutung gewonnen. Er konnte sich jetzt nicht mehr genau erinnern, ob er O’Brien zum ersten Mal vor oder nach diesem Traum gesehen hatte; ebenso wenig konnte er sich erinnern, wann ihm zum ersten Mal aufgegangen war, dass es O’Briens Stimme gewesen war. Wie dem auch sei, diesen Bezug hatte er hergestellt. Es war O’Brien, der zu ihm aus der Dunkelheit gesprochen hatte.
Winston hatte nie sicher sein können – selbst nach dem flüchtigen Blickkontakt an diesem Morgen konnte er nicht sicher sein –, ob O’Brien Freund oder Feind war. Das tat im Grunde auch nichts zur Sache. Zwischen ihnen herrschte ein geheimes Einvernehmen, und das war wichtiger als Zuneigung oder Parteigängertum. »Wir werden uns an dem Ort treffen, an dem es keine Dunkelheit gibt«, hatte er gesagt. Winston wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, er wusste nur, dass es auf die eine oder andere Weise eintreffen würde.
Die Stimme aus dem Telemonitor brach ab. Ein Trompetenstoß, klar und schön, schwebte durch die abgestandene Luft. Die Stimme fuhr in krächzendem Ton fort:
»Achtung! Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit! Soeben erreicht uns eine Sondermeldung von der Malabar-Front. Unsere Streitkräfte in Südindien haben einen glorreichen Sieg errungen. Ich bin zu der Aussage ermächtigt, dass die Militäroperation, von der wir jetzt berichten, den Krieg ein messbares Stück seinem Ende entgegengeführt hat. Es folgt die Sondermeldung –«
Schlechte Nachrichten, dachte Winston. Und tatsächlich, auf eine blutrünstige