Als ihr Gespräch diesen Punkt erreicht hatte, zwängten sich noch ein paar verspätete Reisende vom letzten Bahnhof in den Wagen, und Lily musste zu ihrem Sitzplatz zurückkehren.
»Der Platz neben meinem ist frei – setzen Sie sich doch zu mir«, sagte sie über die Schulter, und Mr. Gryce gelang es, wenn er auch ziemlich außer Fassung war, einen Wechsel zu bewerkstelligen, der ihn und seine Taschen an ihre Seite brachte.
»Ah, und hier ist der Steward, und vielleicht können wir unseren Tee jetzt bekommen.«
Sie winkte die Bedienung herbei, und in kürzester Zeit war – mit der Leichtigkeit, welche die Erfüllung all ihrer Wünsche zu begleiten schien – ein kleiner Tisch zwischen ihren Sitzen aufgestellt worden, und sie hatte Mr. Gryce geholfen, seine sperrigen Besitztümer unter diesem zu verstauen.
Als der Tee kam, beobachtete er sie mit wortloser Faszination, während ihre Hände über das Tablett flatterten und sich dabei wunderbar fein und schmal ausnahmen im Gegensatz zu dem groben Porzellan und klumpigen Brot. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass jemand mit so lässiger Behendigkeit die schwere Aufgabe meistern konnte, in aller Öffentlichkeit und in einem schlingernden Zug Tee aufzugießen. Er hätte nie gewagt, ihn für sich zu bestellen, um die Aufmerksamkeit seiner Mitreisenden nicht auf sich zu lenken, aber im Schutz ihrer alles Interesse auf sich ziehenden Person, nippte er von dem tintenschwarzen Gebräu mit einem herrlichen Gefühl von Behaglichkeit.
Lily, noch mit dem Geschmack von Seldens Karawan-Tee auf den Lippen, hatte keine große Lust, diesen in der Brühe, die in der Bahn serviert wurde, zu ertränken, während diese Brühe für ihren Reisegefährten reiner Nektar zu sein schien. Aber, wie sie richtig annahm, lag einer der Reize des Tees darin, dass man ihn zusammen trinken konnte, und sie machte sich daran, Mr. Gryces Freuden zur Vollendung zu bringen, indem sie ihn über ihre erhobene Tasse hinweg anlächelte.
»Ist er richtig so, habe ich ihn nicht zu stark gemacht?«, fragte sie besorgt, und er antwortete mit Überzeugung, er habe nie besseren Tee getrunken.
»Das könnte womöglich sogar stimmen«, überlegte sie und erwärmte sich bei dem Gedanken, dass Mr. Percy Gryce, der die tiefsten Tiefen hemmungsloser Genusssucht hätte auskosten können, vielleicht wirklich seine erste Reise allein mit einer hübschen Frau unternahm.
Es schien ihr eine glückliche Fügung, dass ausgerechnet sie das Instrument zu seiner Einführung in diese Dinge sein sollte. Manche Mädchen hätten nicht gewusst, wie sie mit ihm umgehen mussten. Sie hätten die Neuheit des Abenteuers überbetont und so versucht, ihn den Reiz einer Eskapade daran empfinden zu lassen. Lilys Methoden aber waren subtiler. Sie erinnerte sich, dass ihr Cousin Jack Stepney Mr. Gryce einmal als einen jungen Mann beschrieben hatte, der seiner Mutter versprochen hat, bei Regen niemals ohne seine Überschuhe auszugehen. Lily legte diesen Hinweis also allem, was sie tat, zugrunde und beschloss, der Szene eine liebenswürdig häusliche Atmosphäre zu verleihen, in der Hoffnung, ihr Reisegefährte werde, statt zum Gefühl, etwas Leichtsinniges oder Ungewöhnliches zu tun, vielmehr zum Nachdenken über die Vorteile einer ständigen Begleiterin gebracht, die einem im Zug den Tee zubereitet.
Aber trotz ihrer Bemühungen ging ihnen der Gesprächsstoff aus, nachdem das Tablett weggeräumt worden war, und sie hatte Anlass, aufs Neue Mr. Gryces Grenzen abzuschätzen. Es war schließlich nicht Gelegenheit, sondern Phantasie, was ihm fehlte, sein geistiger Gaumen würde niemals lernen, zwischen dem Tee der Bahn und Nektar zu unterscheiden. Es gab jedoch ein Thema, auf das sie immer zurückgreifen konnte, eine Triebfeder, die sie nur berühren musste, um seine einfache Mechanik in Bewegung zu setzen. Sie hatte sich das bisher versagt, weil dies ein letztes Mittel für sie war, und hatte auf andere Künste gezählt, um andere Gefühle zu wecken. Als aber nach und nach ein entschiedener Zug von Langeweile auf seinem offenen Gesicht erschien, erkannte sie, dass extreme Maßnahmen vonnöten waren.
»Und wie«, sagte sie und lehnte sich dabei vor, »geht es mit Ihren Amerikana voran?«
Seine Augen wurden gleich ein bisschen weniger trübe; es war, als ob ein Film, der eben im Entstehen begriffen war, von ihm abgezogen worden wäre, und Lily empfand den Stolz eines geschickten Operateurs.
»Ich habe da ein paar neue Sachen«, sagte er, durchströmt von Freude, wobei er aber seine Stimme senkte, als ob er fürchtete, seine Mitreisenden könnten sich verbündet haben, um ihn auszuplündern.
Sie entgegnete mit einer verständnisvollen Rückfrage, und ganz allmählich wurde er dazu gebracht, von seinen letzten Erwerbungen zu erzählen. Dies war das einzige Gesprächsthema, das es ihm ermöglichte, sich selbst zu vergessen, oder vielmehr ihm erlaubte, sich seiner selbst ohne Befangenheit bewusst zu sein, denn das war sein Feld, und hier vermochte er eine Überlegenheit geltend zu machen, die ihm nur sehr wenige streitig machen konnten. Kaum einer seiner Bekannten hatte Interesse an Amerikana oder wusste etwas über sie, und das Bewusstsein dieser Unkenntnis machte Mr. Gryces Kenntnisse zu einer angenehmen Erleichterung. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, das Thema ins Gespräch zu bringen und an ihm als Hauptgesprächsgegenstand festzuhalten; die meisten Menschen zeigten leider kein Bedürfnis, ihre Unwissenheit vermindert zu sehen, und Mr. Gryce war daher so etwas wie ein Kaufmann, dessen Lagerhäuser bis zum Dach mit Waren gefüllt sind, die er nicht auf den Markt bringen kann.
Aber Miss Bart wollte, wie es schien, wirklich etwas über Amerikana erfahren, und darüber hinaus war sie bereits informiert genug, um die Aufgabe weiterer Belehrung ebenso leicht wie angenehm zu gestalten. Sie befragte ihn auf sehr intelligente Weise, sie lauschte ihm ergeben, und da er auf den Ausdruck von Lethargie gefasst gewesen war, der normalerweise auf den Gesichtern seiner Zuhörer erschien, wurde er unter ihrem aufnahmebereiten Blick geradezu beredt. Die Bruchstücke, die sie klugerweise bei Selden hatte sammeln können – genau diesen Zufall voraussehend –, halfen ihr nun so ausgezeichnet, dass sie schon anfing, ihren Besuch bei ihm für das glücklichste Vorkommnis des Tages zu halten. Sie hatte wieder einmal ihr Talent bewiesen, vom Unerwarteten zu profitieren, und unter der Oberfläche lächelnder Aufmerksamkeit, die sie ihrem Reisegefährten weiterhin zuwandte, keimten gefährliche Theorien darüber, ob es ratsam sei, plötzlichen Eingebungen zu folgen.
Mr. Gryces Gefühle waren, wenn auch weniger entschieden, doch ebenso angenehm. Er empfand das undeutliche Kitzeln, mit dem die niederen Organismen auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse reagieren, und all seine Sinne taumelten in einem vagen Wohlgefühl, durch das er Miss Barts Person undeutlich aber wohltuend wahrnahm.
Mr. Gryces Interesse für Amerikana war nicht aus ihm selbst heraus erwachsen; es war unmöglich, ihn sich als jemanden vorzustellen, der eigenständig Geschmack an einer Sache findet. Ein Onkel hatte ihm eine Sammlung hinterlassen, die in bibliophilen Kreisen bereits Beachtung gefunden hatte. Das Vorhandensein dieser Sammlung war das Einzige, das je dem Namen Gryce eine gewisse Glorie verliehen hatte, und der Neffe war so stolz auf sein Erbe, als ob es sein eigenes Werk gewesen wäre. Es kam sogar so weit, dass er es als solches ansah und ein Gefühl persönlicher Selbstzufriedenheit empfand, wenn ihm ein Hinweis auf die Gryce’schen Amerikana in die Hände kam. Ängstlich bemüht, wie er war, persönlich nicht aufzufallen, hatte er doch ein so exquisites und übermäßiges Vergnügen daran, seinen Namen gedruckt zu sehen, dass dies geradezu ein Ausgleich für seine Furcht vor der Erregung persönlichen Aufsehens zu sein schien.
Um dieses Gefühl so oft wie möglich genießen zu können, abonnierte er alle Zeitschriften, die sich mit dem Sammeln von Büchern im Allgemeinen und mit amerikanischer Geschichte im Besonderen befassten. Da sich die Hinweise auf seine Bibliothek in den Seiten dieser Journale häuften, die sein einziger Lesestoff waren, begann er, sich selbst als jemanden zu sehen, der eine wichtige Stellung in der Öffentlichkeit einnimmt, und fing an, den Gedanken daran zu genießen, welches Interesse die Leute, die er auf der Straße traf oder zwischen denen er auf Reisen saß, an ihm haben würden, wenn sie plötzlich erführen, dass er der Besitzer der Gryce’schen Amerikana sei.
Die meisten Ängste haben solche geheimen Möglichkeiten der Kompensation, und Miss Bart war scharfsichtig genug zu erkennen, dass innere Eitelkeit im Allgemeinen in direkter Proportion zur äußeren Geringschätzung der eigenen Person steht. Mit einem