Darüber hinaus hatte sich Mrs. Peniston nicht verpflichtet gefühlt, etwas für ihre Pflegetochter zu tun; sie war einfach beiseite getreten und hatte ihr das Feld überlassen. Lily hatte es übernommen, zunächst mit dem Selbstvertrauen des Besitzers, dann mit nach und nach geringer werdenden Forderungen, bis sie jetzt entdeckte, dass sie wahrhaftig um einen letzten Fußbreit des weiten Feldes kämpfte, das einmal, wenn sie nur gewollt hätte, ihr eigenes geworden wäre. Wie das geschehen war, wusste sie noch nicht. Manchmal dachte sie, es war so, weil Mrs. Peniston sich zu passiv verhalten hatte, dann wieder fürchtete sie, es war so, weil sie selbst nicht abwartend genug gewesen war. Hatte sie einen unangemessenen Siegesdrang gezeigt? Hatte es ihr an Geduld, Anpassungsfähigkeit und Verstellungskunst gefehlt? Ob sie sich diese Fehler nun vorwarf oder sich von ihnen freisprach, machte keinen Unterschied in der Endsumme ihres Versagens. Jüngere und weniger hübsche Mädchen hatte man schon zu Dutzenden verheiratet, und sie war neunundzwanzig und noch immer Miss Bart.
Es kam nun vor, dass sie Anfälle zornigen Aufbegehrens gegen ihr Schicksal durchlebte, wenn sie ein Verlangen verspürte, aus dem Rennen auszusteigen und sich ein unabhängiges eigenes Leben aufzubauen. Aber was für ein Leben konnte das sein? Sie hatte kaum Geld genug, ihre Schneiderrechnungen und ihre Spielschulden zu bezahlen, und keine der vagen Interessen, die sie mit der schönen Bezeichnung »Neigungen« aufwertete, war ausgeprägt genug, ihr ein friedliches, ruhiges Leben zu ermöglichen. Ach nein – sie war zu intelligent, um mit sich selbst nicht ehrlich zu sein. Sie wusste, dass sie alles Schäbige hasste, genauso sehr wie ihre Mutter es gehasst hatte, und sie wollte bis zum letzten Atemzug dagegen ankämpfen, sie wollte sich immer und immer wieder gegen seine Flut aufrichten, bis sie die hellen Gipfel des Erfolgs, die ihrem Griff so oft entglitten waren, erreicht haben würde.
IV
Am nächsten Morgen fand Lily auf ihrem Frühstückstablett ein Kärtchen von ihrer Gastgeberin.
»Liebste Lily«, hieß es da, »wenn es Dir nicht gar zu lästig ist, bis um zehn Uhr unten zu sein, würdest Du dann in mein Zimmer kommen, um mir bei ein paar unangenehmen Pflichten behilflich zu sein?«
Lily schob das Kärtchen beiseite und sank mit einem Seufzer in ihre Kissen zurück. Es war lästig, schon um zehn Uhr unten zu sein – zu einer Stunde, die man auf Bellomont vage mit dem Sonnenaufgang verband –, und sie wusste nur zu gut, um was es sich bei den unangenehmen Pflichten in diesem Fall handelte. Miss Pragg, die Sekretärin, hatte wegfahren müssen, und nun gab es Briefe und Tischkarten zu schreiben, verlorene Adressen aufzuspüren und andere gesellschaftliche Plackerei, die erledigt werden musste. Es galt als selbstverständlich, dass Miss Bart in solchen Notfällen einsprang, und sie übernahm solche Pflichten für gewöhnlich ohne den leisesten Einwand.
Heute aber brachte ihr diese Aufforderung das Gefühl der Versklavung, das der Blick in ihr Scheckbuch gestern Nacht in ihr wachgerufen hatte, erneut zu Bewusstsein. Alles in ihrer Umgebung trug dazu bei, sich wohlzufühlen und die Annehmlichkeiten zu genießen. Die geöffneten Fenster ließen die strahlende Frische des Septembermorgens herein, und zwischen den gelben Zweigen hindurch erblickte sie Hecken und Blumenbeete, die nach und nach weniger geformt in das freie wellige Gelände des Parks übergingen. Ihre Zofe hatte im Kamin ein kleines Feuer angezündet, und es wetteiferte fröhlich mit dem Sonnenlicht, dessen schräge Strahlen auf den moosgrünen Teppich fielen und die geschwungenen Seiten des alten Intarsienschreibtisches liebkosten. Neben dem Bett stand ein Tisch und darauf ihr Frühstückstablett, mit sorgfältig aufeinander abgestimmtem Porzellan und Silber, einer Handvoll Veilchen in einem schlanken Glas und der Morgenzeitung, die ordentlich gefaltet neben ihren Briefen lag. An diesen Zeichen geschickt in Szene gesetzten Luxus war nichts Neues für Lily, aber auch wenn sie zu der ihr eigenen Atmosphäre gehörten, verlor sie doch nie die Empfänglichkeit für solche Reize. Reine Protzerei hinterließ bei ihr nur das Gefühl der eigenen überlegenen Vornehmheit, aber zu allen subtileren Hinweisen auf Reichtum fühlte sie sich hingezogen.
Mrs. Trenors Aufforderung erinnerte sie jedoch jäh daran, wie abhängig sie war, und sie stand auf und zog sich in gereizter Laune an, der nachzugeben sie sonst zu klug war. Sie wusste, dass solche Gefühle Linien auf dem Gesicht genauso wie auf dem Charakter hinterließen, und sie hatte doch vorgehabt, sich die kleinen Fältchen, die ihre mitternächtliche Begutachtung gezeigt hatte, als Warnung dienen zu lassen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Mrs. Trenor sie begrüßte, verstärkte ihre Gereiztheit noch. Wenn man sich schon zu einer solchen Stunde aus dem Bett quälte und frisch und strahlend zu etwas so Eintönigem wie Briefeschreiben erschien, wäre doch wohl eine besondere Anerkennung dieses Opfers angemessen. Aber Mrs. Trenors Ton ließ nicht erkennen, dass ihr die Tatsache bewusst wäre.
»O Lily, das ist nett von dir«, seufzte sie nur über das Chaos von Briefen, Rechnungen und anderen häuslichen Dokumenten hinweg, die der schlanken Eleganz ihres Schreibtisches ein unangemessen geschäftliches Aussehen gaben.
»Ich habe hier so viel Widerwärtiges heute morgen«, fügte sie noch hinzu, machte dabei in der Mitte des Durcheinanders etwas Platz frei und stand auf, um Miss Bart ihren Stuhl zu überlassen.
Mrs. Trenor war eine große blonde Frau, deren Größe sie gerade noch davor bewahrte, zu üppig zu wirken. Ihre rosige Blondheit hatte schon etwa vierzig Jahre sinnloser Aktivitäten überstanden, ohne auffallende Spuren schlechter Behandlung zu zeigen, wenn man einmal von einem arg reduzierten Mienenspiel absah. Es war schwierig, sie zu beschreiben, man konnte höchstens sagen, dass sie nur als Gastgeberin zu existieren schien, nicht so sehr aus einem übertriebenen Instinkt der Gastfreundschaft heraus, sondern vielmehr, weil sie das Leben nicht ertragen konnte, wenn sie sich nicht unter vielen Leuten aufhielt. Der kollektive Charakter ihrer Interessen nahm sie von den gewöhnlichen Rivalitäten ihres Geschlechts aus, und sie kannte keine persönlicheren Gefühle als die des Hasses gegen Frauen, die sich anmaßten, größere Dinners zu geben oder amüsantere Wochenendgesellschaften als sie zu haben. Weil ihre sozialen Talente, unterstützt von Mr. Trenors Bankkonto, sie bei einem solchen Wettstreit letzthin doch immer den Triumph davontragen ließen, hatte der Erfolg in ihr eine bedenkenlose Gutmütigkeit dem Rest ihres Geschlechts gegenüber entstehen lassen, und in Miss Barts Einstufung ihrer Freunde nach Nützlichkeit nahm Mrs. Trenor den Rang der Frau ein, bei der es am wenigsten wahrscheinlich war, dass sie ihr einmal »die kalte Schulter« zeigen würde.
»Es war schlichtweg unmenschlich von Pragg, jetzt zu verschwinden«, erklärte Mrs. Trenor, als ihre Freundin sich an den Tisch setzte. »Sie sagt, ihre Schwester bekäme ein Baby – als wenn das etwas wäre im Vergleich mit einer Gesellschaft für mehrere Tage! Ich werde sicher alles durcheinanderbringen, und es wird schreckliche Streitereien geben. Als ich unten in Tuxedo war, habe ich eine ganze Reihe Leute für nächste Woche eingeladen, habe aber dann die Liste verlegt und kann mich jetzt nicht mehr erinnern, wer kommen wird. Und diese Woche wird auch ein scheußlicher Reinfall werden – und Gwen Van Osburgh wird heimfahren und ihrer Mutter erzählen, wie sehr sich die Leute gelangweilt haben. Ich hatte gar nicht vor, die Wetheralls einzuladen, das war ein Fehler von Gus. Sie haben Vorbehalte gegen Carry Fisher, weißt du. Als ob man ohne Carry Fisher auskäme! Es war natürlich töricht von ihr, sich ein zweites Mal scheiden zu lassen – Carry muss immer alles gleich übertreiben –, aber sie sagt, die einzige Möglichkeit, einen Penny aus Fisher herauszuholen, war es, sich von ihm scheiden und ihn Alimente zahlen zu lassen. Und die arme Carry muss ja mit jedem Dollar rechnen. Es ist wirklich absurd von Alice Wetherall, so ein Theater zu machen wegen ihrer Anwesenheit, wenn man bedenkt, was aus der Gesellschaft geworden ist. Jemand sagte neulich, dass es eine Scheidung und eine Blinddarmentzündung in jeder Familie gäbe, die man kennt. Außerdem ist Carry die Einzige, die Gus bei Laune halten kann, wenn wir Langweiler im Haus haben. Ist dir schon aufgefallen, dass alle Ehemänner sie mögen? Ich meine alle, bis auf ihre eigenen. Ich finde es ziemlich geschickt von ihr, sich speziell öden Leuten zu widmen – das ist so ein weites Feld, und sie hat es praktisch ganz für sich allein. Sie sorgt ganz zweifellos für Ausgleich – ich weiß, dass sie sich