Es handelte sich um Folgendes: Eine alte Dame besaß eine Alderney-Kuh, die sie wie eine Tochter hielt. Man konnte ihr nicht den kürzesten viertelstündigen Besuch machen, ohne von der wundervollen Milch oder der erstaunlichen Klugheit dieses Tieres zu hören. Die ganze Stadt kannte und schätzte Miss Betsy Barkers Kuh; groß war daher die Teilnahme und das Bedauern, als die arme Kuh in einem unbewachten Augenblick in eine Kalkgrube stürzte. Sie stöhnte so laut, dass man sie bald horte und herausholte, aber das arme Tier hatte inzwischen beinahe sein ganzes Haar verloren und kam in einem jämmerlichen Zustande heraus mit seiner kahlen Haut. Jedermann bedauerte das Tier, obgleich wenige bei dem komischen Anblick ein Lächeln unterdrücken konnten. Miss Barker weinte geradezu vor Kummer und Schrecken, und man sagt, dass sie daran dachte, ein Ölbad zu versuchen. Dieses Mittel war wahrscheinlich von einer der vielen Bekannten empfohlen worden, die sie um Rat fragte; aber der Vorschlag, wenn er überhaupt gemacht wurde, fiel sofort durch, als Hauptmann Brown entschied: »Besorgen Sie ihr Weste und Unterhose aus Flanell, Madame, wenn Sie sie am Leben erhalten wollen. Aber das beste wäre wohl, das arme Geschöpf gleich zu töten.«
Miss Betsy Barker trocknete die Augen und dankte dem Hauptmann herzlich; dann machte sie sich an die Arbeit, und bald darauf ging die ganze Stadt hinaus, um die Alderney zu sehen, die friedlich auf die Weide ging, ganz in dunkelgrauen Flanell gekleidet. Ich habe sie selbst manch liebes Mal beobachtet. Sieht man je in London Kühe mit grauen Flanellanzügen?
Hauptmann Brown hatte ein kleines Haus in der Vorstadt gemietet, wo er mit seinen beiden Töchtern lebte. Er muss etwas über sechzig Jahre alt gewesen sein, als ich meinen ersten Besuch in Cranford machte, nachdem ich nicht mehr ständig dort wohnte. Aber er hatte noch eine kräftige, durchtrainierte, elastische Gestalt; trug den Kopf militärisch steif im Nacken und hatte einen leichten Gang, der ihn viel jünger erscheinen ließ, als er war. Seine älteste Tochter sah beinahe ebenso alt aus wie er selbst und verriet so, dass er älter war, als er aussah. Miss Brown muss damals vierzig Jahre gezählt haben; sie hatte einen kränklichen, schmerzlichen und sorgenvollen Ausdruck im Gesicht, und es schien, als ob ihr alle jugendliche Heiterkeit längst entschwunden sei. Auch in ihrer Jugend muss sie unschön gewesen sein, mit scharfen Gesichtszügen. Miss Jessie Brown war zehn Jahre jünger als ihre Schwester und um zwanzig Prozent hübscher. Ihr Gesicht war rund und hatte Grübchen. Miss Jenkyns sagte einmal in voller Wut gegen Hauptmann Brown (den Grund will ich gleich erzählen), dass sie glaubte, »es sei Zeit für Miss Jessie, mit ihren Grübchen aufzuhören und nicht immer zu versuchen, wie ein Kind auszusehen«. Es lag wirklich etwas Kindliches in ihrem Antlitz, und ich glaube, es wird darin bleiben, und sollte sie auch hundert Jahre alt werden. Sie hatte große verwunderte blaue Augen, die einen gerade anblickten, eine nicht besonders schön geformte, etwas stumpfe Nase und rote, frische Lippen; zudem trug sie ihr Haar in kleinen Lockenreihen, was noch mehr zu dem kindlichen Eindruck beitrug. Ich weiß nicht, ob sie wirklich hübsch war oder nicht, aber ich mochte ihr Gesicht gern, und so ging es jedermann; und ich glaube, sie konnte nichts für ihre Grübchen. Sie hatte etwas von ihres Vaters flottem Wesen in Gang und Haltung, und jeder weibliche Beobachter hätte als kleinen Unterschied in der Kleidung beider Schwestern entdecken können, dass Miss Jessie vielleicht zwei Pfund mehr im Jahre dafür ausgab als die ältere Miss Brown. Zwei Pfund waren aber eine große Summe in Hauptmann Browns Jahresbudget.
Dies war der Eindruck, den die Familie Brown auf mich machte, als ich sie zum ersten Mal alle zusammen in der Kirche von Cranford sah. Den Hauptmann hatte ich schon vorher getroffen – bei Gelegenheit des rauchenden Schornsteins, den er durch eine einfache Veränderung im Heizrohr in Ordnung gebracht hatte. In der Kirche hielt er während der Morgenhymne sein Doppellorgnon an die Augen und hob dann den Kopf in die Höhe und sang laut und fröhlich mit. Er sang die Responsen lauter als der Küster – ein alter Mann mit schwacher pfeifender Stimme, der sich wohl durch den sonoren Bass des Hauptmanns zurückgesetzt fühlte und nun höher und höher quiekte.
Beim Hinausgehen aus der Kirche erwies der galante Hauptmann seinen Töchtern die zarteste Aufmerksamkeit. Er nickte und lächelte seinen Bekannten zu; aber keinem schüttelte er die Hand, bevor er Miss Brown geholfen, ihren Regenschirm aufzuspannen, und ihr das Gebetbuch abgenommen hatte; dann wartete er geduldig, bis sie mit nervös zitternden Händen ihr Kleid aufgerafft hatte, um durch die nassen Straßen nach Hause zu gehen.
Zu gern hätte ich gewusst, was die Cranforder Damen mit dem Hauptmann bei ihren Gesellschaften anfingen. Wir hatten uns früher oft gefreut, dass kein Herr vorhanden war, auf den Rücksicht genommen werden und den man bei den Spielpartien unterhalten musste. Wir hatten uns glücklich geschätzt, dass unsere Abende so gemütlich waren, und bei unserer Vorliebe für Vornehmheit und unserer Abneigung gegen die Männerwelt hatten wir uns beinahe zu der Überzeugung durchgerungen, dass es etwas »Ordinäres« wäre, ein Mann zu sein. Als ich nun erfuhr, dass meine Freundin und Wirtin, Miss Jenkyns, mir zu Ehren eine Gesellschaft geben würde und Hauptmann Brown und seine Töchter eingeladen werden sollten, war ich sehr gespannt, wie der Abend verlaufen würde. Spieltische, mit grünem Fries bezogen, wurden wie gewöhnlich schon bei Tage bereitgestellt; es war die dritte Woche im November, und der Abend fing schon um vier Uhr an. Lichter und neue Spiele Karten wurden auf jeden Tisch gelegt. Das Feuer brannte im Kamin, das adrette Dienstmädchen hatte die letzten Anweisungen erhalten, und wir standen in unseren Sonntagskleidern, jede mit einem Kerzenanzünder in der Hand, bereit, uns sofort auf die Lichter zu stürzen, sobald das erste Klopfen an der Haustür ertönte.