Elizabeth Gaskell
Cranford
Aus dem Englischen übersetzt von Hedwig Jahn
in der Bearbeitung von Barbara Fleischhauer
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung
Coverabbildung: © akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961862-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020633-1
Erstes Kapitel
Unsere Gesellschaft
Zuerst muss das Wichtigste gesagt werden: Cranford ist im Besitz der Amazonen. Alle Inhaber von Wohnungen über eine gewisse Miete hinaus sind Frauen. Wenn ein jung verheiratetes Paar sich in der Stadt niederlässt, dann verschwindet der Mann bald auf irgendeine Art; entweder erschrickt er zu Tode darüber, dass er der einzige Mann bei den Cranforder Abendgesellschaften ist, oder sein Verschwinden wird damit erklärt, dass er bei seinem Regiment oder auf seinem Schiffe ist oder die ganze Woche in der benachbarten großen Handelsstadt Drumble, die nur zwanzig Meilen entfernt an der Eisenbahn liegt, zu tun hat. Kurz, was auch aus den Herren werden mag, in Cranford sind sie jedenfalls nicht. Was könnten sie auch tun, wenn sie dort wären? Der Doktor freilich hat seine Praxis dreißig Meilen in der Runde und schläft in Cranford, aber es kann nicht jedermann Arzt sein. Um die schmucken Gärten voll ausgesucht schöner Blumen frei von Unkraut zu halten, um kleine Jungen fortzujagen, die sehnsüchtig nach besagten Blumen durch die Gitter gucken, um sich auf die Gänse zu stürzen, die sich gelegentlich in die Gärten wagen, wenn die Gittertüren aufgelassen worden sind, um alle literarischen und politischen Fragen zu entscheiden, ohne sich mit überflüssigen Gründen und Beweisen aufzuhalten, um genaue und gründliche Kenntnis von den Angelegenheiten aller Leute in der ganzen Gemeinde zu haben, die adretten Dienstmädchen in tadelloser Ordnung zu halten, den Armen Güte zu erweisen und sich gegenseitig in allen Notfällen wirklich freundlich beizustehen – dazu genügen die Damen von Cranford vollkommen. »Ein Mann«, so bemerkte einmal eine von ihnen zu mir, »ist einem im Hause so schrecklich im Wege!« Obgleich die Cranforder Damen genau voneinander wissen, was jede tut und lässt, ist es ihnen doch höchst gleichgültig, was andere von ihnen denken. Da nun bei jeder die Individualität, um nicht zu sagen Exzentrizität, sehr stark entwickelt ist, kommt es natürlich leicht zu Wortgefechten, aber es herrscht im Allgemeinen doch starkes Wohlwollen zwischen ihnen.
Nur gelegentlich haben die Cranforder Damen ein klein bisschen Streit, der sich in einigen gepfefferten Worten und ärgerlichem Kopfschütteln entlädt, gerade genug, dass der gleichmäßige Verlauf ihres Lebens nicht allzu sehr verflacht. Ihre Kleidung ist völlig unabhängig von der Mode; sie bemerken ganz richtig: »Was spielt es für eine Rolle, wie wir uns hier in Cranford anziehen, wo uns jedermann kennt?« Und wenn sie verreisen, so ist ihr Grund ebenso stichhaltig: »Was spielt es für eine Rolle, wie wir uns dort anziehen, wo uns niemand kennt?« Die Stoffe ihrer Kleider sind im Allgemeinen gut und einfach, und die meisten von ihnen sind fast so peinlich genau wie die säuberliche Miss Tyler seligen Angedenkens, aber ich kann versichern, dass der letzte Keulenärmel und der letzte enge Rock, der in England getragen wurde, in Cranford zu sehen war – und nicht belächelt wurde.
Ich kann von einem prachtvollen rotseidenen Familienregenschirm berichten, unter dem eine kleine sanfte alte Jungfer, die von vielen Geschwistern allein übrig geblieben war, an Regentagen in die Kirche trippelte. Gibt es etwa noch rotseidene Regenschirme in London? Es existierte eine Tradition von dem ersten her, der in Cranford zu sehen war, und die kleinen Jungen verhöhnten ihn und nannten ihn »einen Stock im Unterrock«. Vielleicht war es der von mir beschriebene rotseidene Schirm, den ein starker Vater über seinen Trupp kleiner Kinder hielt; die arme kleine Dame – die einzig Überlebende von allen – konnte ihn kaum tragen.
Dann gab es Regeln und Vorschriften für Besuche und Visiten, und sie wurden allen jungen Leuten, die sich etwa in der Stadt aufhielten, mit der Feierlichkeit mitgeteilt, mit der einmal im Jahre die alten Manx-Gesetze auf dem Tinwaldberge vorgelesen werden.
»Unsere Freunde haben sich erkundigen lassen, meine Liebe, wie Sie sich nach der gestrigen Reise befinden – fünfzehn Meilen in einem herrschaftlichen Wagen. Man wird Sie morgen noch etwas ausruhen lassen, aber übermorgen machen sie sicher ihren Besuch; halten Sie sich also von zwölf an bereit, denn von zwölf bis drei sind unsere Besuchsstunden.«
Wenn sie dann dagewesen waren, hieß es: »Es ist schon drei Tage her; ich bin überzeugt, dass Ihre Mama Ihnen gesagt hat, liebes Kind, dass man nie mehr als drei Tage warten soll, bis man einen Besuch erwidert; und ebenso, dass man nie länger als eine Viertelstunde bleiben darf.«
»Aber muss ich denn nach meiner Uhr sehen? Wie soll ich merken, dass die Viertelstunde um ist?«
»Sie müssen an die Zeit denken, mein Kind, und sie nicht über der Unterhaltung vergessen.«
Da nun jedem diese Regel vorschwebte, der einen Besuch empfing oder machte, so wurde natürlich nie von interessanten Gegenständen gesprochen. Wir begnügten uns mit kurzen Redensarten und alltäglichem Klatsch und hielten pünktlich die Zeit ein.
Ich glaube, dass einige von der guten Gesellschaft in Cranford arm waren und Schwierigkeiten hatten, durchzukommen; aber sie machten es wie die Spartaner und verbargen ihren Schmerz unter einem lächelnden Antlitz. Keiner von uns sprach von Geld, denn dieses Thema roch nach Handel und Geschäft; mochten auch einige arm sein, wir waren doch alle aristokratisch. Die Cranforder besaßen jenen freundlichen »esprit de corps«, der sie alle Unzulänglichkeiten übersehen ließ, mit denen einige unter ihnen ihre Armut zu verbergen suchten. Wenn Mrs. Forrester zum Beispiel eine Gesellschaft in ihrem Puppenhause gab und das kleine Dienstmädchen die auf dem Sofa sitzenden Damen aufstörte, damit sie das Teebrett darunter hervorholen konnte, dann nahm jede dieses Verfahren als natürlichste Sache von der Welt auf; und wir sprachen von häuslichen Formen und Zeremonien, als ob wir glaubten, dass unsere Wirtin eine regelrechte Dienerschaft mit Wirtschafterin, Hausmeister und Leutetisch besäße, anstatt des kleinen Mädchens aus der Armenschule, dessen kurze rote Arme nie stark genug gewesen wären, das Teebrett die Treppe hinaufzutragen, wenn ihre Herrin ihr nicht im Geheimen dabei geholfen hätte; dieselbe Herrin, die jetzt in vollem Staate dasaß und so tat, als ob sie nicht wüsste, was für Kuchen heraufgeschickt würden; obgleich sie es wusste und wir es wussten und sie wusste, dass wir es wussten, und wir wussten, dass sie wusste, dass wir es wussten, dass sie den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen war, Teekuchen und Biskuit zu backen.
Aus dieser allgemeinen, aber wohl verschwiegenen Armut und dieser so stark betonten Vornehmheit ergaben sich einige Folgen, die nicht übel waren und in vielen gesellschaftlichen Kreisen eingeführt zu werden verdienten. So begaben sich die Bewohnerinnen von Cranford unter anderem früh zur Ruhe und klapperten gegen neun Uhr abends auf ihren Holzschuhen nach Hause, begleitet von einem Laternenträger; und die ganze Stadt lag um halb elf Uhr zu Bett und war eingeschlafen. Ferner wurde es für »ordinär« (ein furchtbares Wort für Cranford) gehalten, etwas Kostspieliges an Speisen oder Getränken bei den Abendunterhaltungen vorzusetzen. Waffeln, Butterbrötchen und Biskuit waren alles, was die hochangesehene Mrs. Jamieson gab, und doch war sie eine Schwägerin des verstorbenen Grafen von Glenmire, obgleich sie solche »vornehme Sparsamkeit« walten ließ.
»Vornehme Sparsamkeit!« Wie man unwillkürlich in die Redeweise von Cranford zurückfällt! Dort war Sparsamkeit immer »vornehm« und Geldausgaben immer »ordinär und protzig«. Es war die Geschichte von den sauren Trauben, aber wir fühlten uns sehr glücklich und zufrieden dabei. Ich werde nie die allgemeine Bestürzung vergessen, als ein gewisser Hauptmann Brown nach Cranford übersiedelte und