Eben hat der Kutscher sein Pferd befreit, macht drei Schritte zur Leine, will losfahren, da hat der Gaul das Bein schon wieder über die Deichsel. Nun, wir sind Menschen, keine Lagerhäuser der Geduld. Er vertobackt das Pferd.
Wir sind zu hart und zu fein. Wenn wir ein Pferd geschlagen sehen, treten uns die Tränen in die Augen, sehen wir einen Menschen gehetzt, sagen wir: »So ist das Leben«, und drehen die Daumen.
[77]Die Strafe wird auf zehn Mark ermäßigt.
(Anmerkung zur Sprachentwicklung: Der amtierende Richter nahm Anstoß daran, dass der Kutscher sein Kranksein als Krankspielen bezeichnete. »Ich musste ein paar Wochen krank spielen.« Tiefer Sinn, dass bei unsern lausigen Zeiten in Arbeiterkreisen Kranksein ganz allgemein als Krankspielen bezeichnet wird. Arbeit ist Hatz, Arbeit ist Angst, aber Krankheit, schwere Krankheit selbst, Ausruhen, Spiel. Soviel zur Geschichte der Sprache.)
[78]Mein Freund, der Ganove
Ich traf ihn im Wartesaal Vierter, nach Mitternacht, gegen Morgen schon. Er sortierte aus einem Fetzen Zeitungspapier Kippen. Jeder Zigarettenstummel wurde sorgsam aufgepult und der Tabak in eine Blechschachtel getan. Dies Geschäft war gut gegangen, die Schachtel wurde voll.
Doch stand es mit den andern Geschäften nur faul. Er hatte keinen Pfennig in der Tasche und noch nicht zu Abend gegessen. Erinnerte er sich recht, hatte er schon länger Kohldampf geschoben.
»Was wollen Sie? Die Leute haben eben alle heute kein Geld. Dann geht es uns Ganoven auch schlecht. Nicht, dass ich schon etwas anfassen möchte. Ich bin erst eine Woche aus dem Knast. Immerhin, wenn ich so fünfhundert Em hätte … Ich habe nämlich eine Idee –«
Während des Sprechens entging kein Passant seinem wachen Blick. Er sah sie alle, schätzte sie blitzschnell ein, brachte ihre Erscheinungen in Beziehung auf sich wie ein jagdbares Waldtier. – »Die vollgefressene Brillenschlange da, mit der Seehundsfranse unter der Nase, ist von der Schmiere. Nun, meine Flebben sind rein. Was sich solche Leute einbilden! Werde mich hierher setzen, wenn ich Lampen habe. Aber er hat wen auf dem Strich …«
Wir sahen den Mann an, der beim Glase Bier am Büfett lehnte. Für mich war das ein kleinbürgerlicher Restaurateur, ein Glasermeister, der ein bisschen mit der kalten Mamsell schäkerte. »Er sucht wen«, murmelte Otsche, der Ganove, »und es muss ein Grünling sein, der ihn nicht kennt, sonst stellte er sich nicht so an die Theke.«
[79]Was es für eine Idee sei, zu der er fünfhundert Mark brauche?
»Dreihundert täten es auch, zur Not. Ich kann es Ihnen ja sagen, Sie können doch nichts damit anfangen. Übrigens habe ich den Film schon einmal gedreht, in Frankfurt Main. Ein kleines Inserat in der Zeitung: ›Reitpeitsche mit silbernem Griff verloren. Abzugeben Schulgasse 3 bei Frau Masoch.‹« Er sah mich erwartungsvoll an.
»Nun –?« fragte ich verständnislos.
»Prügel –«, meinte er lakonisch. »Sie kamen und holten sie sich und zahlten dafür. Alles bestes Publikum mit dicker Marie. Sie ahnen ja nicht, was für eine Nachfrage danach herrscht.«
Er lachte. Für ihn gab es keine Bedenken, was die Menschen wollten, mussten sie haben. Seine Sache war es, herauszufinden, wo die Nachfrage saß. »Aber natürlich ging das nur ein paar Tage, bis die Polente dahinterkam.«
Der Greifer am Büfett schäkerte noch immer. »Wer es nur sein mag? Von uns ist es keiner, ich kenne alle Jungen, die hier kommen.«
Wieder: »Aber man muss in Schale sein. Ich will Ihnen etwas sagen: Ihr Ponim kann sein, wie es mag, wenn Ihre Hosen nur gebügelt und Ihre Hände manikürt sind. Und dann müssen Sie natürlich richtig deutsch sprechen, für unsereinen gar nicht so leicht bei den vielen Fremdwörtern. Da haben die Leute gleich Zutrauen zu Ihnen. Wenn Sie denen erzählen, Sie sind Doktor und können Diathermie und Arteriosklerose sagen, ohne zu stolpern, und lassen ihre Weiber merken, Sie haben ein weites Herz, wenn es in Punktus Punkti mal schiefgegangen ist, dann dürfen Sie ruhig Ihre Brieftasche vergessen, jeder hilft Ihnen aus.
[80]Aber der Greifer dort macht mich nervös. Mir wäre nicht so mies, wenn er was von mir wollte.« Er suchte den ganzen Saal ab. Die Birnen schienen trübe durch die Rauchschwaden. Traumverlorenes, dumpfes Gefangensein hing über den Verschlafenen, Zerknüllten. »Wer es nur sein mag?« Er suchte wieder, pfiff durch die Zähne. »Ein Mädel ist’s! Darum konnte ich in dem Mist nicht klarkommen. Sehen Sie die Kleine dort in der Ecke, die den Kopf auf den Arm gelegt hat und tut, als ob sie pennt? Die pennt nicht! Sie hat den Fuß auf dem Handkoffer, dadrin ist die Sore.«
»Irren Sie sich nicht, Otsche? Der Kriminal steht mit dem Rücken nach ihr.«
»Und am Büfett hängt ein Spiegel, in dem er die Ecke sehen muss. Warten Sie mal.« Er hatte eine Zigarette gedreht, nun schlenderte er, die Hände in den Taschen, zu einem Tisch, an dem ein paar Arbeiter verdrossen vor ihrem Kaffee saßen. Er ließ sich Feuer geben, begann stehend eine Unterhaltung, bewegte sich hin und her und war so stets zwischen Spiegel und Mädchen. Der am Büfett tat einen Schritt nach rechts, und der Ganove folgte, auch ein Schritt nach links gab die Aussicht nicht frei, so zahlte der Schnurrbärtige und trat an einen Automaten, von wo sein Blickfeld unbehindert war.
Nach ein paar Minuten kam Otsche zurück. »Sie haben recht gehabt«, sagte ich. »Er will was von ihr, und sie weiß es. Vorhin, als Sie einen Augenblick die Aussicht verdeckten, sah sie nach der Tür, als wollte sie fliehen.«
»Vielleicht weiß sie’s. Sicher aber ist, dass sie verschütt geht. Der ist nicht mehr zu helfen.« Er war jetzt entschieden mürrisch und kaute an seiner Zigarette herum.
[81]»Die Sache gefällt Ihnen nicht, Otsche, Sie möchten’s verhindern.«
»Und ich tät’s, fressen Sie einen Besen drauf!« brach er wütend los. »Sie sind ja auch so ein Seidener und haben keine Ahnung, was unsereins für eine Wut im Bauch hat, wenn er die Greifer sieht und an Verhöre, Verhandlung und Knastschieben denkt. Eine Woche bin ich jetzt draußen, und wenn ich mich hier einmische, geht’s nicht ab für mich unter ein, zwei Jahren. Nein, ich lasse die Finger davon, ich fasse nichts an in den ersten drei Monaten.«
Er schwieg wieder und sah nach dem Mädel hin. Sie schien zu schlafen, und der von der Schmiere ging auf und ab wie einer, dem das Warten auf seinen Zug lang wird.
»Sie wissen, ich hab keine Angst. Aber dann, solche noblen Geschichten sind immer fies. Wenn ich so dumm wäre und griffe was an hier, dass er auf mich los müsste und die Kleine könnte stiften gehen, was hätte ich davon? Sie kennt mich gar nicht, und wenn sie mich auch kennte, keine wartet zwei Jahre Knast auf einen. Lassen Sie mich in Ruh mit den Weibern.«
»Aber ich will ja gar nicht, dass Sie was tun, Otsche. Ich finde es sehr vernünftig, dass Sie solide bleiben wollen.«
»Quatsch!« sagte er kurz. »Sie haben natürlich auch Detektivromane gelesen und finden, dass unsereins zu seinesgleichen edel zu sein hat. So ein Blech! Ihr Schreiber seid froh, wenn ihr euern Kerl im Kittchen habt, und das Verbrechen ist glänzend aufgedeckt. Für uns aber fängt die Sache mit dem Qualmschieben erst an. Was habe ich davon, wenn ich jetzt nobel bin? Zwei Jahre Bunker! Und Sie wollen das!«
Er war immer aufgeregter geworden. Die Schläfrigen an den Nebentischen drehten schon die Köpfe nach uns.
[82]»Beruhigen Sie sich doch, Otsche«, sagte ich. »Ich will das gar nicht. Seien Sie solide und –«
»Da!« sagte er kurz. »Jetzt geht’s los. Noch einer von der Schmiere!«
Ein Langer, Blonder, Bartloser stand neben dem Glasermeister, und die beiden sahen ganz ungeniert nach dem Mädel. Das saß da, das Gesicht möglichst weit nach der Wand gedreht, den Koffer griffbereit.
»Wir brauchen uns das ja nicht anzusehen, Otsche«, sagte ich. »Kommen Sie. Irgendwo wird schon ein Lokal offen sein. Ich zahle Ihnen ein Essen.«
»Ich