seiner Kernbedeutung bezeichnet ›Krieg‹ […] die Austragung eines Konflikts zwischen Staaten und/oder hierarchisch verfassten Kollektiven (z. B. aufständischen oder revolutionären Bewegungen oder Teilpopulationen eines Staates wie beim sogenannten Bürgerkrieg), bei der sich mindestens eine Konfliktpartei militärischer Gewalt bedient.5
Es geht also nicht um die Kriegführung einzelner Personen, wie sie sich in Nachbarschaftskriegen oder in Ehe- und Rosenkriegen manifestieren mag, sondern um den Einsatz militärischer Gewalt durch Staaten oder durch Kollektive, die – wie zum Beispiel Guerillabewegungen – über eine interne Struktur verfügen, welche es ihnen erlaubt, als Kollektiv gleichsam wie eine Person zu handeln.
Die Bedeutung des Kriegsbegriffs war und ist zwar historischem Wandel unterworfen,6 und der Begriff bezeichnet heute keineswegs mehr nur die militärische Austragung »symmetrischer« Konflikte zwischen politischen Verbänden.7 Privatkriege zwischen Individuen werden jedoch nicht mit Hilfe militärischer Apparate geführt, und Gegenstand moralischer Beurteilung kann nicht das zufällige Zusammentreffen unkoordinierter Aktivitäten Einzelner sein, sondern nur das Handeln eines Akteurs, der sich auch für eine andere Handlungsweise entscheiden könnte oder hätte entscheiden können. Die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« kann deshalb sinnvollerweise nur so verstanden werden, dass sie sich auf das mögliche moralische Recht eines Staates oder einer nichtstaatlichen Kollektivperson bezieht, Krieg zu führen.
Wenn ich dort, wo ich auf ein solches moralisches Recht Bezug nehme, abkürzend auch von der Legitimität eines Krieges spreche, ist damit immer die moralische Erlaubtheit des Einsatzes militärischer Mittel durch jeweils eine Partei gemeint. Auch dort, wo ich danach frage, ob das Führen von Krieg (oder eine andere Handlung) rechtfertigbar oder gerechtfertigt ist, zielt die Frage auf die moralische Erlaubtheit von Kriegshandlungen ab.
Im Übrigen bezeichne ich mit dem Ausdruck »Ethik« nicht nur eine Teildisziplin der Philosophie, sondern vor allem die Theorie der Moral und das systematische Nachdenken über moralische Maßstäbe und moralische Fragen; mit dem Ausdruck »politische Philosophie« beziehe ich mich auf diejenige Teildisziplin der Philosophie, die politische Prozesse und politisches Handeln ethisch-moralisch reflektiert.
Warum das Nachdenken über die Legitimität von Krieg wichtig ist
Die Vorbehalte, auf die das Nachdenken über die Legitimität von Krieg bei vielen Menschen stößt, sind durch eine bloße Erläuterung der Frage natürlich noch nicht ausgeräumt. Auf drei Vorbehalte, die weit verbreitet sind, sei daher in diesem Abschnitt näher eingegangen. Wir können sie den Begünstigungsverdacht, den Apologieverdacht und den Nutzlosigkeitsverdacht nennen.
(1) Im Begünstigungsverdacht artikuliert sich der Argwohn, dass jedes Nachdenken über die Legitimität von Krieg ebenjenen denkbarer und damit auch wahrscheinlicher macht. Redet, wer nach der Legitimität von Krieg fragt, den Krieg nicht geradezu herbei? Trägt nicht, wer so fragt, zur Entstehung eines politischen Klimas bei, in dem Krieg nicht mehr schlechthin als Unrecht begriffen, sondern als ein unter Umständen eben doch moralisch erlaubtes Mittel der Auseinandersetzung aufgefasst wird? Und wird das nicht letztlich dazu führen, dass die Entscheidung zum Einsatz militärischer Mittel immer leichtfertiger und bedenkenloser getroffen werden wird?
Meines Erachtens ist das eine verständliche, aber unbegründete Sorge. Es lassen sich nämlich nur schwer empirische Belege dafür finden, dass die philosophische Reflexion über die Legitimität militärischer Mittel deren Einsatz gewissermaßen herbeigeredet hätte. Der breite Zweifel an der Legitimität beispielsweise des Vietnamkrieges hat vielmehr gezeigt, dass die öffentliche Erörterung von Maßstäben für die Legitimität des Einsatzes militärischer Mittel es den Regierenden erschweren kann, freiheitlich-demokratischen Gesellschaften jedweden Militäreinsatz als legitim zu ›verkaufen‹ – sosehr die häufig genug wiederholte Vorbringung einer Behauptung schon allein aus psychologischen Gründen Überzeugungen zu wecken und zu stabilisieren vermag.
Auch in der jüngeren Vergangenheit gibt es Beispiele dafür, dass das Nachdenken über den Krieg in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften die Begründungslast für Militäreinsätze erhöht. So hat der Kosovokrieg der NATO 1999 in Europa eine kontroverse Debatte über die Möglichkeit und Zulässigkeit von militärischen Interventionen ausgelöst, die zumindest primär humanitären Zielen dienen; in einem Rückblick auf das Jahr 1999 bewertete sogar die deutsche Tagesschau die Intervention der NATO als verfehlt.8
Ein weiteres Beispiel bietet die Kritik an dem 2003 von den USA begonnenen Irakkrieg, die selbst unter dem Eindruck des scheinbar raschen militärischen Erfolgs auch in denjenigen europäischen Gesellschaften nicht verstummte, deren Regierungen sich, wie diejenigen Großbritanniens, Spaniens und Polens, für eine Beteiligung entschieden hatten.
(2) Ein ähnliches Bedenken spricht der Apologieverdacht aus: Läuft politische Philosophie, die sich kriegsethischen Fragen widmet, nicht Gefahr, Regierenden auch für illegitime Kriegshandlungen eine Rechtfertigung zu soufflieren, die es ihnen erspart, die wahren Motive ihres Handelns offenzulegen? Dient ethisches Räsonnement so nicht letztlich immer rechtfertigenden, apologetischen Zwecken?
Auch dieser Verdacht scheint mir nicht gegen die Erörterung von Maßstäben für die Legitimität des Einsatzes militärischer Mittel zu sprechen. Es trifft zwar zu, dass kriegführende Parteien sich häufig auf die Moral berufen, und es dürfte unstrittig sein, dass dies oft geschieht, ohne dass die Berufung auf die Moral begründet erschiene. Das spricht aber nicht dafür, auf die ethische Reflexion politischen Handelns gleich ganz zu verzichten – im Gegenteil. Denn ohne kriegsethische Reflexion ließen sich Fälle, in denen die Moral ohne zureichenden Grund zur Rechtfertigung von Kriegshandlungen in Anspruch genommen wird, gar nicht von solchen Fällen unterscheiden, in denen die Berufung einer kriegführenden Partei auf die Moral begründet erscheint. Ohne eine systematische Analyse der Triftigkeit der Argumente, die für die Legitimität von Kriegshandlungen ins Feld geführt werden, ließe sich deshalb die Berufung kriegführender Parteien auf die Moral in keinem Fall plausibel zurückweisen. Auch der Apologieverdacht vermag das Nachdenken über die Legitimität des Einsatzes militärischer Mittel deshalb nicht zu diskreditieren. In der Auseinandersetzung mit ihm zeigt sich vielmehr einmal mehr dessen Wichtigkeit.
(3) Der Nutzlosigkeitsverdacht bringt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der moralischen Reflexion von Fragen zum Ausdruck, die das Handeln von Staaten betreffen. Wenn selbst der auch von Deutschland ratifizierte Briand-Kellogg-Pakt den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen nicht verhindert hat, wenn also selbst geltendes Völkerrecht den Zweiten Weltkrieg nicht zu verhindern vermochte: Ist es dann nicht völlig naiv, anzunehmen, dass ein moralisches Urteil irgendeine positive Wirkung auf das Handeln von Staaten haben kann? Kommt es nicht auf der Ebene der Beziehungen zwischen Staaten allein auf den Ausgleich konfligierender Interessen, auf Konfliktmoderation und intelligentes Krisenmanagement an? Bedarf es dazu nicht des Rechts als eines unverzichtbaren Steuerungsinstruments und der Politik als der Kunst des klugen und angemessenen Einsatzes von Macht? Und ist dazu von moralischen Überlegungen nicht am allerwenigsten ein Beitrag zu erwarten?
In Fragen wie diesen, die dem Nutzlosigkeitsverdacht Ausdruck verleihen, artikuliert sich ein instrumentalistisches Missverständnis der Aufgabe von Ethik und politischer Philosophie. Die systematische, dem unparteilichen Standpunkt der Moral, dem sogenannten moral point of view, verpflichtete ethische Reflexion, die Aufgabe dieser philosophischen Disziplinen ist, kann zwar unter Umständen auch zu moralischem Handeln motivieren. Zunächst aber sucht sie – und zwar auch dann, wenn sie Fragen der internationalen Politik betrifft – zu ermitteln, welches Handeln moralische Intuitionen, die alle oder zumindest außerordentlich viele Menschen teilen, gebieten und welche Handlungsweisen ihnen zufolge unerlaubt sind. Die Annahme, sie wäre nur dann sinnvoll, wenn sie in der politischen Praxis unmittelbare Wirkung zu entfalten vermöchte, verkennt daher das primäre Ziel der philosophischen Suche nach überzeugenden Maßstäben, an denen sich unser moralisches Urteil orientieren und positives Recht gemessen werden kann.
Ethik und politische Philosophie