Erster statistisch-kritischer Einschub: SHADES OF DEEP PURPLE
1. And The Address
2. Hush
3. One More Rainy Day
4. Prelude: Happiness/I’m So Glad
5. Mandrake Root
6. Help
7. Love Help Me
8. Hey Joe
erschienen im Juli 1968 (Tetragrammaton, USA) beziehungsweise September 1968 (Parlophone/EMI)
Es dauert nur ein paar Minuten, dann stellt man fest, was der bestimmende Zug des Debütalbums von Deep Purple ist: Eile. „Hush“ nämlich ist ein gutes Stück zu schnell gespielt, hastig fast und stellenweise so hektisch, daß man erwartet, jeden Moment werde das Ganze auseinanderbrechen. Tut es nicht, aber es stakst dahin wie eine siebenbeinige Spinne über eine Düne aus Semmelbröseln. Und da hat man „And The Address“ schon wieder vergessen – oder, Moment: War da nicht etwas Seltsames, was beim Solo mit Ritchie Blackmores Fingern passiert ist?
Auch „One More Rainy Day“, obwohl eine Midtempo-Ballade, kann man sich ein gutes Drittel langsamer und dadurch nicht unwesentlich verbessert vorstellen. Aber jetzt kommt die Sache ins Schwingen, auch harmonisch. Es mögen banale Schlagerharmonien sein, aber sie sind geschickt kombiniert, und Jon Lords gleißende Orgelfanfare versöhnt zumindest fürs Finale mit der polternden Eile, die immerhin einen guten Hintergrund für Ian Paices prima Gewirbel abgibt.
Reiten wir nicht auf dem Tempo herum, obwohl wir das weiterhin tun könnten, ohne aus dem Sattel zu fallen. „Prelude: Happiness“ nämlich muß so schnell sein, weil sonst von dem bolerohaften, ja: Ritt wenig bliebe. Retrospektiv wartet man, daß Herr Blackmore nun endlich das Solieren beginne. Er tut es aber nicht, statt dessen beatelt Rod Evans über seine Freude, dann kommt es doch noch, das Solo, aber es rubbelt blechern und verhallt vor sich hin auf den nun wirklich banalen zwei Akkorden – e-Moll und D-Dur, vermutet man, ohne es überprüfen zu mögen; dazwischen Sprenkel und Kapriolen, aber ein rechtes Solo mag auch Jon Lord zu der Skip-James-Vorlage nicht einfallen. Damit LP-Seite eins voll werde, muß Evans hinein in die Schleife und sich wiederholen, wiederholen, wiederholen, auch mal laut-leise-laut, ehe endlich abgetuscht wird und man positiv wieder nur Ian Paice in Erinnerung behält. Wir hören zum Vergleich die Version des Songs, die Cream 1966 auf ihrem Debütalbum Fresh Cream anboten: Da tut sich auch nicht mehr – da tut sich, recht besehen, sogar fast genau das gleiche, abgesehen vom Harmoniegesang und Claptons Solo, das weniger effektvoll, dafür melodisch runder geraten ist als das hastig-verhuschte Blackmore-Gegenstück (und zu Beginn des dritten Jahrtausends immer noch in Blackmores Liste seiner Lieblingssoli auftaucht). Daß Cream – ohne „Prelude“ – insgesamt etwas statischer tönen, mag der Entstehungszeit geschuldet sein.
„Mandrake Root“ mopst ziemlich ungeniert bei Jimi Hendrix und dessen „Foxy Lady“, läßt zwischendurch aber die Luft raus – auch aus Rod Evans, in den selbst mit einer Hochdruckpumpe kein überzeugender Blues hineinzukriegen wäre. Die Breaks machen Spaß, und nach dem letzten wird improvisiert, hauptsächlich von Ian Paice und Nick Simper, die wunderbar synkopisch vor sich hin rumpeln, aber leider zugetüncht werden von Jon Lords Orgel. Die drängt endlich Blackmore aus dem Rampenlicht, mit einem etwas überhasteten, aber glasscharfen Melodieentwurf, der sofort mit allen vier Rädern entgleist, eine Zeitlang die Schienen entlangschrammt, dann wieder Paice vorläßt. Und da, meint man, hat sich die Band endlich gefunden.
„Mit Verlaub: Dies ist eine völlig unnötige Platte“, schrieb pop im Mai 1969 über die Single „Help“/„Hey Joe“. „Die Beatles und Jimi Hendrix haben das viel besser gemacht als die Deep Purple. Indem man am einen Ort das Tempo drosselt (bei ‚Help‘) und am andern ein langfädiges Bolero-Intro anhängt, hat man noch lange keinen Hit lanciert.“ Mag sein. Mag auch sein, daß es gar nicht darum ging, einen Hit zu „lancieren“, und daß Popmusik als solche von Haus aus unnötig ist, wie alles Schöne, aber der Kritiker hat auch so noch unrecht. Denn selbst „Help“, diese in der Tat extrem herabgebremste Beatles-Coverversion, erscheint dem unvorbereiteten Hörer trotzdem zu schnell, zu drängend gespielt, obwohl sie es nur streckenweise wirklich ist. Man wünschte sich da besonders von der Achse Simper-Paice Gelassenheit. Na gut: Paice und Simper hätten sich bestimmt ebenfalls gefreut, ein paar Stunden mehr Zeit zu haben, und am Ende, da geht es dann ja auch. Und „Hey Joe“? Das, da ist pop zuzustimmen, wirkt wie ein dreimal zu oft erzählter Witz, dessen Pointe in einem Mulm aus ungeschickt hingeschraubten Schnörkeleien ertrunken ist. Wer mag, kann Zitate des spanischen Komponisten Manuel de Falla suchen. Aber noch ein Bolero muß nicht sein, mehr Breaks machen die sowieso maßlos überladene Nummer auch nicht verdaulicher, und Rod Evans’ gesangliche Darstellung kommt kaum über eine witzlose Persiflage hinaus.
Dazwischen hat sich „Love Help Me“ geschoben, ein ganz kurioser Eintopf aus Merseybeat, Beach-Boys-Surfsound, Arthur Brown, Cream, fünf verschiedenen Refrainentwürfen, die Rod Evans nicht aufzugreifen vermag, und Ritchie Blackmores vergeblichem Versuch, aus dem Stegreif ein Riff zu erfingern, das aber einfach nicht herauswill aus den zuckenden Gelenken. Vielleicht der einzige Song auf dem Album, der sogar noch einen Schuß mehr Tempo vertragen hätte, dafür aber auf die Wah-Wah-Overdubs verzichten könnte – zugunsten der schrillen Rhythmusgitarre der ein entscheidendes bißchen schnelleren instrumentalen Demoversion, die annähernd wie eine Punkrock-Blaupause klingt. Aber wer weiß. Schlau daraus wird man nicht.
Auch nicht aus der Platte als ganzer, denn unmittelbar nach ihrem Ende oder spätestens ein paar Tage danach und zuverlässig immer mal wieder hat man Lust, sie noch mal zu hören. Liegt das an versteckten Ingredienzen, Lockstoffen, geschmacksfreien, aber wirksamen Additiven, an dem schon beim Hören sich formenden Gesamteindruck, daß da mehr drinsteckt, als man hört (oder umgekehrt)? Es ist nicht zu sagen. Möglicherweise ist es einfach der Charme der seltenen Gelegenheit, einer weitgehend heterogenen Gruppe von Musikern bei dem Versuch zuzuhören, eine Band zu werden und eine gemeinsame Musik zu erfinden, mit Zwang, Mut, Lust und nicht zu leugnendem Können, was Shades Of Deep Purple interessanter und liebenswerter macht als vieles andere, was, an anderen Maßstäben gemessen, zweifellos „besser“ ist. „Allen scharfsichtigen Popfans sehr zu empfehlen“, meinte der New Musical Express – und sei es nur, um ihre Scharfsicht auf unterhaltsame und spannende Weise zu überfordern, fügen wir hinzu.
Und schon landen Artie Mogul und seine Tetragrammaton-Adlaten in London und treiben zu noch mehr Eile an. Deep Purple werden mal wieder in die Mr.-Fish-Boutique geschleppt, rundum ausstaffiert, die Haare modisch nach vorn gebürstet, das Ganze schnell photographiert. Mogul und die Seinen packen Bilder und Bänder ein und zischen wieder ab; kaum sechs Wochen später erscheint Shades Of Deep Purple in den USA, begleitet von einer Reklamekampagne, die den Eindruck nahelegt, die Firma verfüge über unerschöpfliche Geldquellen. Die heimatliche EMI ist wesentlich vorsichtiger: Ihren Entscheidungsträgern ist das Projekt zu unsicher, die Veröffentlichung wird erst einmal verschoben.
Daß Artie Mogul mitsamt seinen drei Vorgesetzten Silver, Cosby und Campbell kurz darauf wieder nach London kommt, um zu verkünden, er habe sich über die Köpfe der Musiker hinweg für „Hush“ statt „Help“ als Single entschieden, obwohl der Song, von Kris Ife abgesehen, erst ein gutes Jahr zuvor in einer Version von Billy Joe Royal als Single erschienen ist, hat nur ein kurzes Murren zur Folge. Denn am selben Abend gibt die Firma im Mayfair Hotel einen Empfang für Deep Purple, die Presse und EMI-Boß Sir Joseph Lockwood, der eindrucksvoll demonstriert, daß diese Herren offensichtlich wissen, was sie geschäftlich tun und zu tun haben. Alle Tetragrammaton-Abgesandten wohnen in gewaltigen Suiten mit angeschlossener Küche und soviel Personal, daß sie sich nicht mal die Schuhe selbst binden müssen. Und Roy Silver wird nicht müde, während des Empfangs ein Photoalbum herumzuzeigen, das sein Büro in Los Angeles zeigt. Die Möbel, betont er, haben eine halbe Million Dollar gekostet.
Moguls Angestellte verstehen aber auch ihr Handwerk und wissen, wo amerikanische Radiosender die entscheidenden Türen haben. „Hush“ läuft bald in allen US-Programmen, und ebensobald klettert die Single die Billboard-Charts hoch, wo sie im September auf Platz 4 thront. Der Erfolg hat, wenn man Jon Lord glauben mag, auch