Out ist die traditionelle Popshow unter triefenden Kellerdecken oder auf Großbühnen vor kreischenden Horden, die von Polizisten in Schach gehalten werden. Man sucht andere Wege, sich zu verwirklichen. Die Beatles gründen einen „Konzern“, der Boutiquen, Modeschneider, Filmemacher, Kunstmaler und Experimentaltöner ohne Gewinnabsicht mit Geld versorgt. Die Rolling Stones veranstalten einen „Rock ’n’ Roll Circus“, die Pretty Things und The Who schreiben „Rockopern“ über derangierte Persönlichkeiten unterschiedlicher Provenienz, und das große Ereignis der Saison ist der „14-Hour Technicolour Dream“ am 29. April im Roundhouse (einem ehemaligen Eisenbahndepot), wo Prominente (Pink Floyd, Pretty Things, Yoko Ono, Soft Machine, Alexis Korner, Pete Townshend, Graham Bond, Savoy Brown, The Creation, The Move, Mick Farrens Anarchoband Social Deviants und viele andere), aber auch höchst absonderliche Bands mit merkwürdigen Namen wie The Flies, Giant Sun Trolley, The Block, The Cat, Charlie Brown’s Clowns, The Interference, Jacobs Ladder Construction Company, 117, Poison Bellows, The Stalkers, Utterly Incredible Too Long Ago To Remember und Sometimes Shouting At People krude Weltraumtöne in die Halle absondern – unter blubbernden Buntlichtblasen aus der „Trip Machine“ von Fireacre Lights, einer Nudistenkommune, die in der Gegend von Watford in Wohnwagen haust und sich hauptsächlich aus Schullehrern zusammensetzt. In der Mitte der Halle stehen eine riesige Jahrmarktsrutschbahn und ein Iglu, in dem man Bananenschalen raucht, während die zehntausendköpfige menschliche Besatzung mit LSD und Pilzextrakten gefüllt ist. Da der Andrang der Künstler, die zugunsten der Underground-Postille International Times auftreten wollen, überbordet, spielen immer zwei Bands oder Solisten gleichzeitig an beiden Enden der Halle. Bedröhnte Skinheads tanzen Ringelreihen mit Blumenmädchen in Spitze und Samt, John Lennon, der in den Fernsehnachrichten von der Sause erfahren hat, rückt mit seinem Rolls-Royce zum Mitfeiern an, und in der Morgendämmerung vergnügen sich die letzten Restbesucher damit, auf dem Parkplatz mit einem drei Meter hohen Joint Fußball zu spielen. Am 16. Juli findet nach diversen Prozessen und Parlamentsdebatten wegen des Haschischbooms am Speaker’s Corner im Hyde Park eine „Legalise Pot Rally“ statt, bei der Allen Ginsberg Polizisten mit Blumen beschenkt; am selben Abend verabschiedet sich der Nachrichtensprecher der BBC mit einem indischen Namasti-Zeichen von seinen Zuschauern.
Der musikalische „Untergrund“ reckt seine Häupter in populäre Sphären: Syd Barrett, Vorsteher der Jungakademiker-Blues-Combo Pink Floyd, predigt die Eroberung des Weltraums mittels Mutterkornderivats, angeliefert von den Flötisten an den Toren der Dämmerung. Der eben noch supercool-schnittige Mod-Bubi Marc Bolan quäkt in indischen Lumpen mit Kräuselmatte unter dem Bandnamen Tyrannosaurus Rex verhuschte Sinnigkeiten über jugendliche Seher und Propheten mit Himmel im fahlen Haar; seine Mit-Mods The In Crowd heißen neuerdings Tomorrow, weil man sie sonst nicht im Ufo Club spielen hätte lassen, und schweben auf weißen Phantasiefahrrädern der Revolution entgegen. John Lennon vertont Kinderzeichnungen, und den Songtitel kann, wer mag, auf LSD reimen, während sein Bandkollege Paul McCartney Veranstaltungen wie „Freak Out Ethel“ und den „Million Volt Rave“ mit „Free Form Tapes“ voller elektronischem Summselbrumms und Beatles-Schnipseln beschallt. Arthur Brown springt mit brennendem Hut durch seine verrückte Welt und läßt sich mit Bier löschen, wenn sein Mantel mal wieder Feuer gefangen hat. Und der kürzlich noch als Bassist der braven Animals tätige Chas Chandler hat im September 1966 den ehemaligen Little-Richard-Begleitgitarristen Jimi Hendrix aus Amerika in die Stadt geschleppt, ihn samt Freundin Kathy Etchingham bei sich (in Ringo Starrs ehemaliger Kellerwohnung am Montague Square 34) einquartiert. Er läßt ihn zunächst hier und da in Nachtclubs ein bißchen mitjammen (und schleust ihn, da er keine Arbeitserlaubnis hat, stets durch die Hintertür hinaus), stellt ihm dann zwei Hippie-toupierte Amateurliga-Musikanten zur Seite und verschafft dem Wort „ausflippen“ damit einen enormen Zuwachs an Bedeutung und Gebrauch. Irgendwie dabeisein möchte jeder, der mit populären Kulturprodukten irgendeiner Art zu tun hat. Die Beatles, deren Sgt. Pepper-Platte am 1. Juni erscheint, sammeln keine vier Wochen später in den EMI-Studios eine wimmelnde Schar von Pop-Prominenz, Adabeis, Blumenblüten und Topfpflanzen um sich und jodeln für zweihundert Millionen Psychedelisierungswillige in aller Welt „All You Need Is Love“ in die Kameras der BBC-Sendung Our World Live. Kurz darauf suchen sie mit Kind, Kumpel und Kegel den in Großbritannien gastierenden Maharishi Mahesh Yogi auf, kehren aber nach London zurück, als sie vom Tod ihres Managers Brian Epstein erfahren. Die Rolling Stones, deren gerade erst auf Kaution freigelassener Sänger zwei Tage später erneut verhaftet wird, weil er während der Live-Sendung mit Marianne Faithfull einen Joint geraucht hat, quälen sich daraufhin ein paar Wochen lang als „satanische Majestäten“, ehe sie sich hörbar erleichtert endlich einem neuen Blues-Boom anschließen dürfen. „Damals hatten die Verrückten das Irrenhaus übernommen“, erinnert sich Ian Paice 2004 an den Sommer des Wahnsinns. „Die Musiker konnten machen, was sie wollten, und die Industrie verdiente ein Vermögen, weil die Musiker machten, was sie wollten. Wenn man etwas ausprobieren wollte, probierte man es aus, und es gab niemanden, der einem gesagt hätte, daß das nicht geht. Alles wurde ausprobiert.“
Außerhalb der Londoner Vorstädte registriert man das grelle Getue mit Befremdung. Zwar konsumieren die Hippies in den USA mindestens ebenso viele hirnaktive Chemikalien, aber ihre Ziele sind größtenteils weltlicher Natur. Abgesehen von Timothy Learys Anhängern, die mit einem gewaltigen Trip das gesamte Universum durch ein neues ersetzen möchten, beschränken sie sich auf die Beendigung des Vietnamkriegs (damit sie nicht selbst hinmüssen) und die generelle Kostenfreiheit des Lebens, das man am liebsten kommunal mit ekstatischem Moppeln in leerstehenden Häusern und auf beschallten Äckern verbringen möchte. Weltall, Hobbits und anderer Phantasietand bleiben den „Pranksters“, den Yippies und Diggers so fremd wie einem Großteil der frischkostümierten britischen Secondhand-Darsteller.
Noch schlimmer sind die Deutschen dran. Im Land der aufmüpfig werdenden Studenten versteht man noch nicht einmal wörtlich, worauf die psychedelischen Barden hinauswollen, spürt aber, daß da ein feiner Treibstoff für klassenkampfsubstituierende „Generationskonflikte“ schlummert, den man auch prima zur (erst später so genannten) „Selbstverwirklichung“ und zur Abgrenzung vom schlagerschunddominierten Spießbürgermilieu nutzen kann. Aber wie soll das gehen, wenn man nicht mitbekommt, um was es geht, und die verworrenen Soundklügeleien auch nur unter größter Mühe und Einsatz höchster Kontingente von Selbstbeherrschung und Friedfertigkeit überhaupt durchstehen kann?
Doch spielen solche Konsequenzkalamitäten vorläufig noch keine Rolle. Man flippt aus, und wer im Musikgeschäft einen Fuß auf den Boden kriegen will, tut gut daran, mindestens noch ein kleines Stück mehr auszuflippen als alle anderen.
Ein entscheidender Faktor in Chris Curtis’ Phantasieband-Welteroberungsplänen ist ein Wundergitarrist, von dem zu schwärmen er nicht müde wird. Jon Lord, der die Meinung vertritt, psychedelische Wunderprojekte seien nur zukunfts- und alltagstauglich, wenn sie von einem Fundament aus handwerklicher Solidität – besser noch: Brillanz – getragen werden, ist in diesem Punkt besonders hellhörig; denn, sagen wir’s, wie’s ist: Die Schwurbeleien gehen ihm am Arsch vorbei. Was zählt, ist die Musik. Aber wer ist dieser sagenhafte Ritchie Blackmore, den Curtis auf jeden Fall bei Roundabout dabeihaben möchte und von dem er behauptet, er liebe Hamburg so sehr, daß ihn nur ein einziger Mensch (Curtis selbst) von dort weglocken könnte?
Er fragt in seinem Bekanntenkreis herum, erntet viel Schulterzucken und Kopfschütteln, vage Andeutungen und immerhin eine Auskunft: Flowerpot-Men-Bassist Nick Simper kennt den Unbekannten nicht nur, er verehrt ihn geradezu. Früher, sagt er, kannte den jeder, damals, als er mit Mike Dee im Southall Community Center aufgetreten ist, einfach weil er so schnell spielte, so verblüffend schnell. Beide spielten jeweils eine Zeitlang bei Screaming Lord Sutch. Zuletzt hat ihn Nick in Hamburg getroffen. Da wollten sie sogar gemeinsam eine Band gründen – Nick sollte Baß spielen und singen, holte sich dann aber eine hartnäckige Halsentzündung und kehrte nach London zurück. Wenn es Lord und Curtis tatsächlich gelänge, diesen Mann, der nun wohl immer noch in Hamburg sitze, für das Projekt zu begeistern,