Rot ist die Rache. Stefan Huhn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Huhn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672733
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weitergegeben. Man wollte die Bevölkerung nicht vorschnell verunsichern. Was die Rückkehr des Schlitzers anging, gab es vor wenigen Jahren – im Frühjahr 2015 – tatsächlich einen Vorfall mit aufgeschlitzten Kehlen. Auf diese Tat wies auch der Artikel hin. Doch damals kamen alle Opfer aus Nordafrika und überlebten zudem den Angriff des Täters. Der war Brite und saß seitdem in Haft.

      Erst am Schluss des Textes wies der Redakteur auf diesen Fakt hin und sprach von einem möglichen Trittbrettfahrer. Zu weit hergeholt, dachte Timo, der inzwischen eine Tasse Kaffee ohne Milch und mit viel Zucker in den Händen hielt und nachdenklich die ersten Schlucke nahm.

      Was hatte die ominöse Botschaft des Täters zu bedeuten? Gab es bereits einen weiteren Toten, von dem sie noch nichts wussten? Und was für ein Mensch ritzt nach so einer Bluttat in aller Seelenruhe eine Botschaft in die Haut seines Opfers? Finger- oder Schuhabdrücke gab es laut Spurensicherung nicht. Auch potenzielle Zeugen waren Fehlanzeige. Es hatten sich zwar zahlreiche neugierige Passanten am Tatort getummelt, aber deren Vernehmung ergab keine brauchbaren Hinweise. Entdeckt wurde die Leiche von der Kellnerin des Trinkgelages, die, wie der Ermordete, für eine Zigarette nach draußen getreten war. Wie sie konnten auch die drei Kommilitonen von Tobias Mürle nichts zur Aufklärung beitragen. Er hätte weder Feinde noch eine eifersüchtige Freundin und sei auch nie ein aggressiver Typ gewesen. Ärger sei er lieber aus dem Weg gegangen. Darin stimmten die Studenten überein.

      Die Münsteraner Polizei war noch in der Nacht bei Tobias’ Eltern aufgetaucht und auf große Fassungslosigkeit gestoßen. Wie sollte es anders sein? Auch wenn Timo durch die Arbeit schon ziemlich abgestumpft war, gingen ihm die Treffen mit Angehörigen eines Mordopfers immer noch sehr nahe. Es musste schrecklich sein, das eigene Kind durch ein Gewaltverbrechen zu verlieren.

      Trotzdem hatte er jetzt Hunger. Die letzte Mahlzeit war die klassische Fußball-TV-Abend-Pizza während des Union-Spiels gewesen. Bestellt bei einem neuen Lieferservice, dessen Flyer in Timos Briefkasten gelandet war. Ein völliger Reinfall, wie er fand – Dosenchampignons hatten nichts auf einer Pizza vom Italiener zu suchen. Zudem war der Rand viel zu dick gewesen, sodass Timo diesmal auf Nummer sicher und zum Dönermann seiner Wahl gehen wollte.

      Nicht vegetarisch – und schon gar nicht vegan – war ein Großteil der Gerichte vom Dönertraum am Neuköllner Hermannplatz. Natürlich gab es reichlich Salat in der klassischen Vitrine eines türkischen Imbisses, der jeden Dürüm und Döner nach der obligatorischen Frage „Alles drauf?“ komplettierte. Aber Pide mit Hackfleisch, Hähnchen- und Rindfleisch und der so gar nicht orientalische Hamburger mit Pommes dominierten das Angebot von Ehsan, dem liebenswerten Besitzer. Das traf genau Timos Geschmack, denn Falafel und Co. gehörten nicht zu seinen Favoriten. Mit dieser Einstellung fühlte er sich in Berlin fast wie ein aussterbender Dinosaurier – schließlich lagen Halloumi, Kichererbsen und Humus längst nicht mehr nur bei Ökos hoch im Kurs.

      Die konservativen Essensvorlieben des Hauptkommissars hatten allerdings zu großen Problemen in seiner letzten Beziehung geführt. Timos unverzichtbarer Fleischkonsum erwies sich sogar als Zünglein an der Waage für die Entscheidung beider, getrennte Wege zu gehen. Abgesehen davon, dass Linda seinen Beruf als Polizist aufgrund der Unvereinbarkeit mit einem geregelten Beziehungsalltag zunehmend nervig fand. Dabei hatte er Linda auch keine Vorwürfe in Bezug auf ihren Lebensentwurf als freischaffende Künstlerin gemacht. Ganz zu schweigen von der Selbstverständlichkeit, mit der sie bei ihm eingezogen war, weil sie selbst stets knapp bei Kasse war. Keine gute Basis für ein gesundes Miteinander.

      „Einmal Dönerteller komplett für den Hauptkommissar“, strahlte Ehsan, nachdem er das üppige Gericht auf den Tresen gestellt hatte. Mit seinem blauen, viel zu engen T-Shirt, auf dem in weißen Großbuch­staben Dönertraum – Schnell & Lecker geschrieben stand, dem schwarzen Haar, südländischen Teint und der holprigen Aussprache, erfüllte Ehsan alle Klischees eines deutschtürkischen Dönerbudenbesitzers. Die wild zusammengewürfelte Deko im Hintergrund, die von einer Wasserpfeife bis zu Berliner Kindl Bierdosen reichte, vervollständigte das sympathische Gesamtbild. Ehsans Laden war stets gut besucht, und nette Worte fand er sogar noch für die Partymeute morgens um halb vier.

      Der Dönerteller mit Kalbfleisch, Reis, Zwiebeln, Salat und Knoblauchsoße schmeckte hervorragend. Wie immer. Timo hob den linken Daumen hoch in Richtung Ehsan, was dieser dankend zur Kenntnis nahm. Der Hauptkommissar stand auf, nahm sich eine Cola aus dem Selbstbedienungs-Kühlschrank und setzte sich erneut an den schlichten, aber für seinen Zweck völlig ausreichenden Imbissbudentisch. Der erste prickelnde Schluck weckte – wohl eher eingebildet als dem geringen Koffeingehalt geschuldet – wieder seine Lebensgeister.

      Gleich würde er auf das Präsidium fahren. Eventuell hatten sie Glück und die Gesamtheit der forensischen Beweise würde einen ersten Hinweis geben. Timo stellte die Getränkeflasche auf den Tresen, rundete die Rechnung auf neun Euro auf, verabschiedete sich mit einem festen Handschlag von seinem Freund und enteilte in den leicht vernieselten Samstagmittag.

      Zwei

      Als Timo zwei Stunden später mit Carlos das Polizeipräsidium verließ, war er keinen Deut schlauer als vorher. Dafür umso gefrusteter. Denn in Sachen Spurenvermeidung erwies sich der Täter als Vollprofi. Außer dem Todeszeitpunkt gegen Mitternacht und dem Hinweis, dass es sich bei der Tatwaffe wohl um ein Skalpell gehandelt haben muss – ansonsten wären die feinen Schnitte kaum möglich gewesen – gab es keine weiteren Erkenntnisse.

      Jetzt mussten sie weiter im Umfeld des Opfers herumschnüffeln. Das war der nächste logische Schritt. Zuerst in den vier Wänden von Tobias Mürle. Also informierte Timo dessen Mitbewohnerin, eine junge Frau namens Lisa Bröker, über ihren anstehenden Besuch.

      Kurze Zeit später machten sich die Kommissare auf den dreißigminütigen Weg nach Oberschöneweide im südöstlichen Berliner Verwaltungsbezirk Treptow-Köpenick. Während der Bezirk als Ganzes mit seiner hohen Naturdichte, wie dem schicken Müggelsee in Köpenick, durchaus auch Touristen lockte, war Oberschöneweide – im Berliner Volksmund gern verschrien als Oberschweineöde – nicht ganz so attraktiv. Das lag nicht zuletzt an der bis vor einigen Jahren sehr aktiven Nazi- und NPD-Szene, die bis Anfang 2014 in der berüchtigten Kneipe Zum Henker und anderen Lokalitäten ihr Unwesen getrieben hatte.

      Timo begleitete im gedrosselten Tempo die gelbe Tram 27, während er auf der Edisonstraße die Treskowbrücke überquerte, von der aus rechts unten die an der Spree gelegenen Rathenau-Hallen in das Blickfeld des Kommissars gerieten. Diese waren vor dem Zweiten Weltkrieg fest in der Hand der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, die Oberschöneweide in puncto Elektrotechnik zu einem weltweit bedeutenden Standort gemacht hatte. Im Krieg wurden Teile der Gebäude zerstört, danach wiederaufgebaut und zunächst von den Russen, dann vom DDR-Regime erneut in Betrieb genommen. In den 1990ern gelangten die Hallen über Umwege wieder in den Besitz der AEG. Mittlerweile nutzten viele private Investoren die Räumlichkeiten. Der wohl prominenteste Käufer unter ihnen war der US-amerikanische Rockmusiker und Künstler Bryan Adams, der sich ein Atelier mit Nähe zur Spree offensichtlich nicht durch den schlechten Ruf von Oberschöneweide madigmachen ließ.

      Auch wenn Timo nicht gerade auf seichte Rockmusik stand, fand er das Tauschgeschäft – Bryan Adams gegen NPD – recht gelungen. Sein persönliches Highlight des gesamten Südostens Berlins war jedoch das nur wenige Kilometer in Richtung Köpenick entfernte Stadion An der Alten Försterei – der ganze Stolz eines jeden Union-Fans. Viel atmosphärischer als das im Verhältnis zur Berliner Einwohnerzahl stets überschaubar gefüllte Olympiastadion der Hertha.

      „Hier musst du rechts abbiegen, Mann“, raunzte Carlos seinen Kollegen an, der gedankenverloren weiter geradeaus fuhr.

      „Entspann dich mal. Die Nächste rechts rein geht genauso“, konterte Timo. Und er lag richtig. Kurz darauf erreichten sie ihren Zielort in der Plönzeile.

      „Na dann mal schauen, ob wir hier weiterkommen. Ich hoffe, sie hat sein Zimmer so gelassen, wie es war, als er das Haus verlassen hat“, sagte Carlos und drückte auf den Klingelknopf unter dem Namensschild ­Bröker/Mürle.

      Lisa Bröker wohnte im dritten Stock mit Blick auf den Innenhof einer Grundschule, der jetzt am späten Nachmittag wie leer gefegt war. Zwei Tischtennisplatten aus