Wegen Wersai. Dagmar Schifferli. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Schifferli
Издательство: Bookwire
Серия: rüffer&rub literatur
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906304441
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Knipszange und Schaffnerkelle. Zwischen seinen Lippen eine rote Trillerpfeife.

      Pausbacken, pusten, ein schriller Ton, los geht’s.

      Priska und ich sitzen im Speisewagen, der direkt an der Krokodil-Lok hängt. Wir fahren weit, sehr weit, bis nach Afrika.

      »Gibt es hier eigentlich auch einen Schlafwagen?«

      »Erst an Weihnachten«, erklärt der Lokführer, mit der gestreckten Hand am Mützenrand.

      Der Zug fährt durch zwei Tunnel, über eine Brücke, durch eine Baumallee. Wenn er anhält, ziehen wir die Fensterscheiben herunter und winken hinaus. Der Schaffner streckt die Kelle zum Himmel, pfeift und steigt schnell wieder zu.

      Plötzlich ruft jemand nach mir.

      »Komm schnell herauf, Kathi, deine Mama will nach Hause!«

      »Wir sind doch noch gar nicht in Afrika angekommen! Ich möchte noch länger bleiben!«

      »Nein, das geht heute nicht«, ruft Tante Lucille zurück, »beeil dich. Deine Mama fühlt sich elend, ihr ist schwindlig, und jetzt sieht sie auch noch alles doppelt.«

      »Soll ich bei dir bleiben?«, fragt Tante Lucille, als sie später meine Mutter die Treppe zu unserer Wohnung hinauf begleitet.

      »Danke, lieb von dir. Lass nur. Ich kenne das schon.«

      Kurz nachdem Tante Lucille in ihrem Lancia Aurelia zurückgefahren ist, muss Mama sich übergeben. Ich greife nach der leeren Früchteschale auf dem Esstisch. Mama würgt, mir wird selbst übel, doch bei mir kommt nichts.

      »Kathi, bitte ruf den Krankenwagen.«

      Mama hakt sich bei mir unter, die paar Schritte bis zum Sessel schafft sie kaum.

      Der Mann am Telefon erkundigt sich, was passiert ist, wo wir wohnen und wer ich bin. Ich weiß alles, ohne Mama fragen zu müssen. Das Krankenauto sei in einer Viertelstunde da, sagt er, ich brauche keine Angst zu haben. Vielleicht könne ich ja bei einer Nachbarin klingeln. Während ich telefoniere, sehe ich einen nassen Fleck auf dem Teppich. Ich schäme mich, dass ich eine Mama habe, die in die Hose pinkelt.

      Mama fährt ohne mich ins Krankenhaus. Sie hat den kleinen Lederkoffer dabei, der für einen Notfall immer bereitsteht. Und das ist ein Notfall. Ich soll auf Papa warten, der bestimmt bald nach Hause komme. Jetzt wäre ich sogar froh um Tantelotte. Niemand da, der sagt, es wird schon alles wieder gut, Mama wird nicht sterben. Der Fernseher. Jetzt könnte ich ihn doch anstellen, ohne fragen zu müssen. Ich hole mir eine Handvoll Erdnüsse aus dem Vorratsschrank, setze mich damit in Papas Fernsehsessel. Der Fernseher hier und der bei Tantelotte sind Zwillinge, dunkelbraune Möbel auf dünnen Beinchen. Mit den Knöpfen direkt unterhalb des Bildschirms kann man die Sender und die Lautstärke einstellen. Vielleicht wurden die beiden Geräte gleichzeitig gekauft, weil dann das zweite billiger war. Alle sagen immer, dass wir sparen müssen. Aber zwei für eins, wie manchmal Salatköpfe verkauft werden, gibt es bei den Fernsehern bestimmt nicht.

      Gerade eben fährt einer, der Jim Clark heißt, als Erster durchs Ziel. Er winkt wie der Papst. Jemand, den man im Bild nicht sehen kann, schreit, dass der Rennfahrer mit diesem Sieg schon jetzt Weltmeister geworden ist. Einen Ferrarifahrer erwähnt niemand, sodass ich Papa besser nichts davon erzähle.

      Morgen schreibe ich Tommy, dass Mama im Spital ist. Bei der Adresse muss man jetzt vor der Stadt vier Zahlen setzen. Wie die genannt werden, haben wir in der Schule geübt: Postleitzahl. Da, wo ich mit Tantelotte wohne, ist es 8048, bei Mama und Papa 8038, bei Tommy 1700.

      ICH SAMMLE KRONKORKEN von Bierflaschen. Die meisten finde ich hinter dem Restaurant Sternen. Willi, dessen Vater eine mechanische Werkstätte betreibt, schlägt die Kronkorken mit einem schweren Hammer platt und schneidet sie anschließend auf die Größe eines Fränklers zurecht. Sobald er zwanzig Stück beisammen hat, hole ich sie gegen eine Tafel Haselnussschokolade ab. Mit diesen Fränklern füttere ich das Nicknegerli, wenn ich mit der Religionsklasse beichten gehe. Fräulein Reck begleitet uns und passt auf, dass sich niemand vor dem Beichten drückt. So sieht sie auch, dass ich für die armen Negerli in Afrika immer etwas spende.

      »Das freut den Herrgott«, lobt Fräulein Reck.

      »Es ist von meinem Taschengeld.«

      »Dann zählt es im Himmel sogar doppelt. Deine Tante strickt ja auch immer fleißig für unseren Basar. Den Armen eine Freude zu bereiten hast du bestimmt von ihr gelernt.«

      »Sie ist nicht meine Tante«, will ich widersprechen, doch Fräulein Reck hat sich schon abgewandt und mahnt die in den Bänken knienden Kinder zur Ruhe.

      Helen und ich haben einander geschworen, im Beichtstuhl nichts zuzugeben, um dann beim achten Gebot zu sagen: Ich habe gelogen.

      »Wie oft?«, fragt der Pfarrer.

      »Drei- oder viermal.«

      »Mit drei Vaterunser und vier Ave-Maria ist es wieder abgegolten, mein Kind«, nuschelt er hinter dem braunen Holzgitter.

      Zurück in der Kirchenbank knie ich mich nieder, falte die Hände unter dem Kinn und bewege die Lippen, als würde ich beten. Seit dem Konzil, hat uns Fräulein Reck erzählt, versteht der liebe Gott auch Deutsch. Trotzdem hätte mein Vater die Messe lieber weiterhin auf Lateinisch. Fehlte nur noch, dass der Priester das Messopfer nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde feiern darf.

      ZU MEINEM LETZTEN Geburtstag hat mir Tante Lucille ein Tagebuch geschenkt. Auf der Vorderseite hat es ein farbiges Bild von einem Pferdekopf mit großen dunkelbraunen Augen, hinten ein herziges Murmeltier, das an einem Grasbüschel knabbert, den es zwischen den Pfoten hält. Das Beste daran ist, dass man das Buch abschließen kann. Den Schlüssel halte ich in der Spardose versteckt.

      Wenn Tantelotte länger weg ist, zum Beispiel bei der Coiffeuse oder bei einer Nachbarin, schreibe ich in mein Tagebuch. Dass ich traurig bin, weil Tommy im Internat ist oder weil Mama vielleicht bald stirbt. Oder etwas aus der Schule, das ich niemandem erzählen will. Tantelotte erzähle ich sowieso nur etwas, wenn sie mich zwingt oder überlistet. Ich kann nie sicher sein, ob sie das, was ich ihr anvertraue, nicht hinterher meinem Vater oder meiner Mutter ausplaudert oder einer Nachbarin oder sonst jemandem. Oft bleibt sie nach dem Einkaufen noch lange im Gemüseladen stehen und redet mit der Frau, der das Geschäft gehört. Dann schimpft sie bestimmt über mich, sagt, dass sie mich überhaupt nicht lieb hat und dass ich immer so frech bin.

      Vor Kurzem habe ich eine Liste mit Sachen erstellt, die ich besonders mag oder gerne mache. Den Titel habe ich in meiner schönsten Schrift mit grünem Farbstift zuoberst auf eine neue Seite geschrieben: Was ich besonders mag oder gerne mache. Darunter:

      Heinz einen Verband anlegen

      ein Zitronen-Tiki direkt im Mund

      Papa Moll, Mama Moll, Willy, Fritz und Evi

      und der Dackel Tschips

      Zuckerwatte

      Milchschokolade mit ganzen Haselnüssen

      das Diktat zurückbekommen mit keinem

      einzigen Fehler

      das Lachen von Frau Simonis

      bei Tante Lucille übernachten

      wenn Tantelotte ihren Mittagsschlaf macht

      meine Mama

      Mama müsste eigentlich ganz zuoberst stehen.

      Kaum hatte ich das alles aufgeschrieben, hörte ich Tantelotte im Korridor. Ich schloss das Tagebuch sofort ab, steckte den Schlüssel in die Spardose und schob das Buch in die hinterste Ecke meines Bettumbaus.

      Als sie später wieder einmal wegging, schrieb ich eine neue Liste. Ein roter Titel, darunter alles, was ich nicht mag:

      Tantelotte

      Tantelotte

      Tantelotte

      Staubsaugen

      Kuttelwürmer

      Beichten