Und doch musste ihm klar sein, dass diese gefrorenen Kreaturen auch innerlich so kalt waren wie ihr Äußeres und marionettenhaft den Willen eines anderen ausführten. Sie würden niemanden schonen – auch einen Verwandten nicht, denn mit den Mitgliedern des Clans des vierfingrigen Froschessers hatten diese Geschöpfe kaum mehr als die Gesichtszüge gemein.
„Die Frostgötter sorgen offenbar mit ihrem eisigen Hauch dafür, dass diese Gestalten nicht zu Haufen von stinkendem Fleisch zerfallen“, murmelte Gaerth, dann verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse des inneren Schmerzes und der Wut. Erneut troff Speichel von seinen Hauern, als er einen Schrei ausstieß, wie Gorian ihn noch nie zuvor gehört hatte – weder von einem Orxanier noch von einem Menschen oder irgendeiner anderen Kreatur.
Der Orxanier trommelte sich wie ein Wahnsinniger auf die Brust. „Gebt mir ein Schwert! Eine Axt! Einen Bogen! Warum habe ich keine Waffe bei mir? Ah ...“ Er riss das Messer zum Spleißen der Seile aus seinem Gürtel – die einzige Waffe, die er gerade bei sich trug – und schleuderte es den Frostkriegern entgegen. „Hier! Nimm deine Erlösung, Onkel Srapax!“, rief er.
Kein Mensch hätte einen Wurf von solcher Reichweite ausführen können, und Gorian hatte auch noch nie einen Orxanier ein Messer schleudern sehen. Es war größer als jene, die Menschen benutzten, schon weil Gaerths riesige Pranke ansonsten den Griff gar nicht hätte umfassen können. Die Klinge ähnelte eher einem Kurzschwert, wie die Krieger der Stadtwache von Thisia sie führten.
Die orxanische Klinge traf einen der Frostkrieger, der, eine monströse Axt schwingend, am Bug des ersten Ruderschiffs Aufstellung genommen und drohende Knurrlaute in Richtung des Ufers ausgestoßen hatte. Die Klinge bohrte sich ihm genau ins rechte Auge. Er taumelte zurück und stürzte ins Wasser, woraufhin sich ein ohrenbetäubendes Wutgeheul unter den orxanischen Frostkriegern erhob.
Jetzt lief Gaerth zur letzten Barkasse, die er zusammen mit Beliak eigentlich an Land hatte ziehen wollen. Er packte den bereits herausgenommenen Mast und brach ihn in der Mitte über dem Knie durch, sodass zwei angespitzte Enden entstanden. „Zur Seite!“, herrschte er Gorian und Beliak an, während er mit jeder Pranke jeweils eine Hälfte des Barkassenmastes wie einen Speer fasste, die spitzen Bruchenden nach vorn gerichtet. Mit zwei furchtbaren Schreien warf er den Angreifern die beiden Masthälften entgegen und streckte damit zwei seiner zu Frostkriegern gewordenen Verwandten nieder. „Seid mir dankbar, dass ihr nicht länger als gefrorene Leichen umherlaufen müsst!“, rief er, wobei seine Sprache vom Heiligreichischen ins Orxanische und wieder zurückwechselte, ohne dass ihm das wohl selbst bewusst war.
Doch die Antwort der Frostkrieger folgte unmittelbar. Speere und Wurfäxte hagelten auf die Anlegestelle nieder. Gorian wich zur Seite. Ein Speer jagte haarscharf an seinem Kopf vorbei. Gaerth allerdings wurde von einer Wurfaxt in den Kopf getroffen. Der Orxanier schwankte. Er stieß einen dumpfen, grollenden Laut aus und verzog das Maul mit den Hauern. Die Wurfaxt hatte ihm die Stirn gespalten.
Gaerth umfasste den Griff der Waffe, die aus einleuchtenden Gründen größer war als jede unter menschlichen Kriegern oder Holzfällern gebräuchliche Axt. Mit einem Schrei riss er sie sich aus dem eigenen Schädel. Hirnmasse tropfte von der Klinge.
Mit einer ausholenden Bewegung schleuderte er sie zurück, während ihn beinahe gleichzeitig zwei Speere trafen; einer durchbohrte seine Brust, der andere den Hals. Er sank auf die Knie und sah noch, wie sein Axtwurf durch die ungeheure Wucht, mit der er die Waffe geschleudert hatte, einem der Frostkrieger den Hals zu zwei Dritteln durchtrennte und ihn vom Schiff ins Wasser kippen ließ.
Ein dritter Speer drang Gaerth in das aufgerissene Maul, trat hinten im Nacken wieder aus und ließ Blut in einer Fontäne hervorschießen. Sterbend fiel er auf die nur noch unzureichend vertäute Barkasse, die sich durch den Schwung löste und ein Stück hinaus in die Thisilische Bucht trieb.
Gorian riss das Schwert aus der Rückenscheide und ließ Sternenklinge blitzartig die Luft durchschneiden. Er traf den Schaft eines Speers, der ansonsten Beliak getroffen hätte, und durchschlug ihn. Mit einem zweiten Hieb wehrte er ein Wurfbeil ab. Bläuliche Funken sprühten, als das Sternenmetall seiner Waffe auf die Axtklinge traf.
„Nur weg hier!“, rief Beliak.
Zusammen mit Gorian rannte er den Steg entlang. Einen Speer, der nach ihm geschleudert wurde, musste Gorian noch abwehren und mit einem Hieb zur Seite schlagen. Ein weiterer Speerwurf war einfach nicht weit genug, um ihn oder Beliak zu gefährden.
Plötzlich blieb Gorian stehen.
„Worauf wartest du?“, rief der Adh. „Darauf, dass sie uns abschlachten oder zu Untoten machen? Nun komm schon!“
Gorian fasste Sternenklinge mit beiden Händen und sah, wie die Frostkrieger anlandeten. Die gefrorenen Orxanier dampften förmlich. Offenbar war selbst der kalte Hauch der Frostgötter nicht eisig genug, um Bedingungen zu schaffen, unter denen sich diese Kreaturen wirklich wohlfühlen konnten. Es war die magische Kälte, die sie vollkommen erfüllte und sie bis ins Innerste gefroren hielt, die ihre Körper dampfen ließ.
Die Ruderschiffe blieben im flachen Uferbereich stecken, und Dutzende von orxanischen Frostkriegern sprangen hinab. Es zischte jedes Mal, wenn einer von ihnen von Bord sprang. Sie stießen barbarische Schlachtrufe aus und brüllten sich gegenseitig mit ihren vorspringenden Mäulern an, als wären sie ein Rudel wilder Raubtiere auf Beutefang.
„Komm jetzt!“, rief Beliak. „Mit etwas Glück könnte uns die Flucht gelingen!“
Sich gegen die Übermacht der Orxanier zur Wehr zu setzen, schien der Adh gar nicht erst in Betracht zu ziehen. Und Gorian musste widerwillig zugeben, dass die Einschätzung des knollennasigen Gnomen vollkommen richtig war. Eine vage Hoffnung blieb, dass vielleicht die Magie der Schädelsteine den Angreifern wenigstens etwas von ihrer Kraft nahm.
Immer mehr der zu Frostkriegern gewordenen Orxanier sprang von den angelandeten Schiffen und wateten durch das viel wärmere Wasser der Thisilischen Bucht.
Gorian stand starr da, Sternenklinge in der Hand und den Blick auf die Angreifer gerichtet.
Und auf dem grauen Nebel dahinter.
„Da kommt noch etwas!“, wusste er plötzlich.
Beliak packte ihn an der Schulter. „Weg hier, Gorian! Nimm das schnellste Pferd aus dem Stall und verschwinde von hier, solange es noch geht! Du hast gesehen, was sie mit Gaerth, ihrem Verwandten, gemacht haben! Die werden hier niemanden am Leben lassen!“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm zum Meer. „Und wenn sie dich wieder erwecken, wird das aus dir!“
Aus den Fluten stieg gerade einer der orxanischen Untoten, denen Gaerth die Hälften des durchgebrochenen Mastes in die Leiber getrieben hatte. Das Maststück stach vorn und hinten aus seinem Körper hervor. Vergeblich versuchte er, ihn sich aus der eisigen Brust zu ziehen, aber er schaffte es nicht. Das Holz glitzerte bereits, denn es war inzwischen ebenfalls mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die noch stärker dampfte als die Körper des Frostkriegers selbst.
Der Orxanier brüllte laut und voller Wut, hob sein Schwert, das fast so breit war wie zwei menschliche Handspannen und sich an der Spitze teilte, ganz wie es der Schmiedetradition der Orxanier entsprach, und schlug mit einem Hieb vorn ein Stück des Mastes ab, sodass er nicht mehr so stark in seinen Bewegungen behindert wurde.
In den letzten Jahren hatte sich Gorian bemüht, alles über die Frostkrieger zu erfahren, was an spärlichen Informationen bis nach Thisilien gelangt war. Gaerth hatte ihm von den verzweifelten Abwehrkämpfen erzählt, die in Orxanien gegen diese Kreaturen geführt worden waren. Außerdem hatte Gorian einiges in den Schriften des Ordens gefunden, die sein Vater noch auf dem Speicher aufbewahrte.
So unterschiedlich die einzelnen Darstellungen und Berichte auch waren, in einem stimmten sie alle überein: Auch Untote waren keineswegs unsterblich, und wenn eine dieser Kreaturen so schwer getroffen wurde wie jener Orxanier mit dem Maststück im Leib, bedeutete dies normalerweise ihr Ende – und nach dem Glauben vieler auch die Erlösung desjenigen, der zum Sklaven des Unheils geworden war.
Gaerth war sich nicht