Als zweites Beispiel sei auf den Briefwechsel zwischen Cullmann und Lukas Vischer verwiesen. Vischer hatte nach Kriegsende Theologie in Basel, Göttingen sowie Strassburg studiert. Bei Cullmann promovierte er über Basilius den Grossen und verfasste während des Pfarramtes eine Habilitationsschrift im Fach Neues Testament.85 Nach dem Pfarramt in Herblingen/SH (1953–1961) wurde Vischer theologischer Studiensekretär, später Direktor der Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Vischer war vom ÖRK als Beobachter an das Zweite Vatikanische Konzil delegiert.86 Regelmässig berichtete er dem damaligen Generalsekretär des ÖRK, Willem Visser ‘t Hooft, aus Rom. Die Berichte und Briefe liegen im Archiv des ÖRK in Genf. Sowohl Vischer als auch Visser ’t Hooft standen mit Cullmann im Briefwechsel.87 Vischers Briefwechsel ging natürlich über das Zweite Vatikanische Konzil weit hinaus. Auf die Publikation Einheit durch Vielfalt im Jahr 1986 schrieb Vischer einen langen Brief, den Cullmann in der zweiten Auflage als weiterführenden Beitrag ausführlich aufnahm.88
IV. Thematischer Zugang: Ökumene
Thematisch von hervorragendem Interesse ist sicher der gesamte Bereich der Ökumene. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil sprudeln die Quellen |32| reichlich.89 Reizvoll und noch weitgehend ungeklärt ist die Rolle, die Cullmann als Beobachter des Konzils auf Einladung des Sekretariats für die Einheit der Christen ausfüllte.90 Welche Beziehungen hatte Cullmann zu den anderen Beobachtern, den Experten, den Konzilsvätern und zu den übrigen Teilnehmern des Konzils? Auf welche Weise und mit welchen Impulsen nahm er Einfluss? Wie gestaltete er seine Berichte und wie orchestrierte er seine öffentlichen Auftritte? Gibt es während der vier Sessionen Verschiebungen der Akzente? Und in diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die Kontakte zu den zwei Konzilspäpsten zu situieren.
Zugleich dürften die verschiedenen Aspekte von Cullmanns ökumenischer Konzeption sowie deren Tragfähigkeiten weiterhin ein wichtiges Thema bleiben.91 Cullmann hatte sich bekanntlich vor allem auf die sogenannte grosse Ökumene konzentriert. In der erwähnten Reaktion auf die Publikation Einheit durch Vielfalt hatte Lukas Vischer darauf hingewiesen, dass die Spaltungen im Protestantismus weniger «Charismen» als vielmehr ein Missbrauch der «Vielfalt» seien. Der Protestantismus müsse daher diese Entstellungen bekämpfen. Cullmann stimmte mit Vischer überein, wollte die Anregungen ausdrücklich aufnehmen und berücksichtigte Vischers Einwurf in der zweiten Auflage von 1990. Überall dort, wo die Absonderungen nicht zur bereichernden Vielfalt beitrügen, sei der Zusammenschluss innerhalb des Protestantismus geboten.92 Aber was heisst das im Einzelnen? Wie beurteilte Cullmann die Leuenberger Konkordie von 1973? Hat er sich überhaupt zur Gemeinschaft evangelischer Kirchen Europas (GEKE) geäussert?
Im Folgenden verweise ich auf drei konkrete ökumenische Initiativen Cullmanns, die eine vertiefte Untersuchung verdienten. Mit Blick auf die Kollekte, die Paulus in den Gemeinden für Jerusalem sammelte (1Kor 16,1–4; Gal 2,10), schlug Cullmann in einem Vortrag, den er anlässlich der ökumenischen Weltgebetswoche für die Einheit der Christen am 21. Januar 1957 in Zürich hielt, eine gegenseitige Kollekte der Protestanten und der Katholiken |33| vor.93 Diese praktische Solidarität sollte ein Zeichen der Einheit der getrennten christlichen Kirchen in Christus sein.94 In der Korrespondenz finden sich zahlreiche Reaktionen auf diese Initiative. 1958 veröffentlichte Cullmann eine Broschüre unter dem Titel Katholiken und Protestanten. Ein Vorschlag zur Verwirklichung christlicher Solidarität, in dem er seinen Vorschlag ausführte.95 Die Publikation erschien im gleichen Jahr auch in französischer Sprache.96 Wie er es gewohnt war, liess er die Publikation vielen Persönlichkeiten zukommen.97 Viele der Adressaten haben mit Briefen oder Buchbesprechungen geantwortet.98 Die Resonanz war enorm. Das von Karlfried Froehlich detailliert verzeichnete Material aus den Jahren 1957 bis 1963 umfasst mehrere hundert Korrespondenzstücke. An dieser Initiative lässt sich exemplarisch zeigen, wie Cullmann vorging, eine Idee vorbereitete, das Projekt vernetzt kommunizierte und schliesslich auf unterschiedlichen Wegen verfocht. Auch das dialogische Motiv wird sichtbar. Cullmann suchte das Gespräch und nahm Zustimmung und Ablehnung auf. Sorgfältig führte er darüber Buch, wo seine Initiative aufgenommen und umgesetzt wurde.99
Auf einem Empfang der Konzilsbeobachter während der zweiten Session regte Papst Paul VI. die Errichtung eines Forschungsinstituts an, das der gemeinsamen Erforschung der Heilsgeschichte durch alle Konfessionen gewidmet sein sollte.100 Sowohl im akademischen Rat mit ungefähr dreissig Persönlichkeiten aus der Ökumene als auch im kleineren Exekutivausschuss engagierte sich Cullmann beherzt für dieses Anliegen. In den Jahren 1967 bis 1972 wurde der Bau des Instituts für Höhere Theologische Studien in Tantur bei Jerusalem erstellt. 1972 bis 1973 verbrachte Cullmann nach seiner Emeritierung |34| das erste offizielle Studienjahr in Tantur. Der Hauptzweck der Stiftung war eine ökumenische Arbeitsgemeinschaft von Theologen aller Bekenntnisse im Ursprungsland der Christenheit. Wissenschaftliches Lehren und Lernen, gemeinsames Leben und Feiern von Gottesdiensten gehörten zu den Grundideen des Projekts. Thematisch sollten die Studien der biblischen Heilsgeschichte gewidmet sein.101 In der Korrespondenz finden sich immer wieder Spuren des Engagements für das Projekt in Tantur. In einem Brieffragment an Papst Paul VI. wird schon 1966 ein möglicher erster Rektor in Tantur erwogen.102 Oder Cullmann charakterisierte gegenüber einem Peritus das Projekt in Tantur als eine der schönsten ökumenischen Realitäten nach dem Konzil.103 In einem Briefentwurf dankte er Papst Paul VI. für Bücher, die aus der Vatikanischen Bibliothek an die Bibliothek in Tantur gingen.104 Bei Jean Kardinal Villot fragte er 1971 wegen einer Audienz beim Papst an, um unter anderem über das Institut in Tantur zu berichten.105 An die Oberin der Schwestern in Tantur schrieb er, um sich vorsichtig für eine Schwester einzusetzen, die offenbar versetzt werden sollte.106 Selbst als er sich bei Papst Johannes Paul II. vorstellte, erwähnte er in einem Briefentwurf neben seiner Freundschaft mit Papst Paul VI. das ökumenische Projekt in Tantur.107 Cullmann hat Tantur in den 1970er Jahren mehrfach besucht und dort auch unterrichtet. Allerdings war dem Projekt nicht der erhoffte Weg vergönnt. Den Rückzug der Orthodoxen von der aktiven Mitarbeit am Institut bedauerte er ausserordentlich.108 Welche Visionen verfolgte Cullmann mit dem Projekt? Und wie beurteilte er den weiteren Fortgang des Tantur Ecumenical Institute for Theological Studies? Wie sah das Projekt strukturell und inhaltlich aus?109 Eine präzise Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Institution |35| fehlt. Auch Cullmanns Äusserungen über das Projekt sowie sein Engagement in Tantur sind nicht untersucht.
Als drittes ökumenisches Projekt sei hier lediglich erwähnt das Konzept für Chamonix post mortem. Cullmann hatte sich vorgestellt, dass die Villa Alsatia in Chamonix eine Stätte des wissenschaftlichen Austausches, der ökumenischen Studien und des gemeinsamen Lebens werden könnte.110
Überblickt man die zwei letzten Projekte, fällt der Leitgedanke einer ökumenischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft auf. Für dieses Motiv dürften die Erfahrungen im Thomasstift und im Theologischen Alumneum prägend gewesen sein.
V. Zugang über Werke: Das Gebet im Neuen Testament
Neben der Korrespondenz nimmt die Kategorie der «Manuskripte» den Löwenanteil des Nachlasses ein. Aus dieser ursprünglich pragmatisch angelegten, breiten Kategorie wurden während der Sichtung des Materials ein Bereich umgeordnet: Die Korrespondenzen aus Cullmanns Feder, also Briefe, Brieffragmente, Briefentwürfe, Abschriften oder Kopien, wurden in einer eigenen Kategorie der Korrespondenz zusammengefasst. Cullmann legte selbst ein Dossier mit Konzilsakten an, das zahlreiche Manuskripte enthält und das geschlossen in die Kategorie «Zweites Vatikanisches Konzil» einging. Ob eine weitere Differenzierung notwendig sein wird, muss die Benutzung des Archivs zeigen. Jedenfalls sind die Quellen in der gegenwärtigen Ordnung problemlos greifbar.
Die Kategorie der «Manuskripte» ist reich ausgestattet und umfasst eine Vielfalt von Quellengattungen. Ich nenne drei Beispiele zur Illustration: In einem Entwurf aus den Jahren 1938/1939 notiert Cullmann seine Einschätzungen der Entwicklung der Theologischen Fakultät in Basel. Nachdem