Ja, wo sollte er überhaupt jetzt hin? Er, der „Hannebambel“, wie ihn Oschi zutreffend beschrieben hatte, der außer Valentin keinen Menschen mehr kannte, der ihn mochte? Und auch dies schien seit heute Abend fraglich. – Es trieb Nikolaus zu dem Spielplatz, den er vor einem Jahrzehnt mehrmals täglich aufgesucht hatte, als sorgeberechtigte Begleitung des Kleinen: jeweils mit präziser Zeitangabe versehen, wie lange er sich hier aufzuhalten und wann er heimzukehren habe. Annedore brauchte eben Ruhe.
Unter einer Linde, die noch kahl war, ließ sich Nikolaus auf die wohlbekannte Bank nieder. Er betrachtete die Spielgeräte im Laternenlicht. Einerseits war es damals unendlich langweilig gewesen, Stunden über Stunden hier zu verbringen, in der selten anregenden Gesellschaft akribischer Mütter, die ihn mehr duldeten als schätzten. Zum andern hatte er seinerzeit eine Aufgabe, war gewissermaßen sozial akzeptiert im Kontakt zu diesem Kind, dessen Existenz ihn hinwiederum an eine Frau band, die ihn zu verabscheuen schien, warum auch immer. Nikolaus streckte die Beine aus, lehnte den Kopf nach hinten. Weiche Regenspritzer trafen ihn im Gesicht. Ah, Frühlingsregen, dachte er, ohne etwas dabei zu empfinden. Eine Melodie ging ihm durch den Kopf, eine lange nicht mehr gehörte. Er kam nicht drauf.
Früher, das wusste er, hatte er das Lied oft gesungen. Seit langem beschränkte er sich darauf, seine einst vorzüglich ausgebildete Stimme im Kirchenchor hören zu lassen. Bei den Aufführungen sang er so leise wie möglich, um nicht aufzufallen. Dieser Kirchenchor ... Nikolaus litt unter den quietschenden, verheulten Einsätzen zumal der älteren Soprane, durfte sich jedoch durchaus nicht beschweren: denn einer, der beinahe einmal die Laufbahn zum professionellen Sänger eingeschlagen hätte, ist in einem Vorstadtkirchenchor selbstverständlich fehl am Platz. Wie war er dort nur hineingeraten? Richtig, Annedore hatte gemeint, es könne nicht schaden, wenn man in der Gemeinde ein wenig Präsenz zeige ... zumal der liebe Valentin dort getauft worden war und die Kommunion erhalten hatte.
Durch ein Kichern wurde Nikolaus aus seinen Gedanken aufgescheucht. Es war ihm sogleich unangenehm, dass man ihn spätabends auf einem Kinderspielplatz alleine antraf. Wieder einmal gab er keine gute Figur ab – das fanden auch die fünf Jugendlichen, vier Burschen und ein Mädchen, die sich ihm gegenüber auf der anderen Bank niedergelassen hatten. Ein wenig blöde schaute er hinüber, sein Gesicht war nassgeregnet. Am lautesten lachte das Mädchen.
„Voll das Opfer“, tuschelte es ihren Begleitern zu. Einer von diesen, er trug eine kurze Jeansweste und war an den Oberarmen tätowiert, spielte den Fürsorglichen.
Indem er treuherzig mit dem Kopf wippte, beugte er sich vor und lehnte die Unterarme auf die Oberschenkel. „Ey, wenn wir dir irgendwie helfen können ...?“
Für seine Freunde war das zu viel. Kreischend vor lachen, klatschten sie einander ab, wischten sich Tränen aus den Augen. Das Mädchen schlug vor Übermut auf den Überfreundlichen ein und nannte ihn „Sozialheimer“. Auch dieser musste nun über seinen Witz lachen – zu Nikolaus’ Erstaunen, denn er hatte das Angebot ernst genommen.
Bis zur Halbglatze von Schauern der Scham überzogen, stand Nikolaus geschwinde auf. Um den Spielplatz zu verlassen, musste er direkt an dieser Bank voller Schadenfreude vorbei. Er überlegte, ob er lieber den rückwärtigen Zaun überklettern solle. Nein, das wäre nun doch übertrieben. Was kümmerten ihn ein paar harmlose Halbwüchsige? Er hatte anderen Kummer. In der Mitte des Spielplatzes befand sich ein Sandkasten; das hätte Nikolaus eigentlich wissen müssen – doch im Dunkeln stolperte er hinein, strauchelte und schlingerte auf das Türchen zu. Diese neuerliche Einlage gefiel seinem Publikum über die Maßen. Einer der Jungs röchelte am Boden und flehte, der Fremde solle doch bitte, bitte aufhören mit seiner Show. Es sei zu großartig. Während Nikolaus das Türchen durchschritt, vernahm er abermals das Wort „Opfer“. Diese darwinistische, hundserbärmlich gemeine Jugendsprache hatte ihn schon immer angewidert; doch in seinem Innern musste er den Nachtschwärmern recht geben.
Kaum hatte er sich ein paar Schritte entfernt, fiel ihm ein, dass der Schlüssel noch auf der Bank lag. Seine Rückkehr wurde mit großem Hallo begrüßt.
„Haben Sie es sich anders überlegt?“, machte sich der Chef-Zyniker zum Vergnügen seiner Beisitzer erneut über Nikolaus lustig.
„Der hat wahrscheinlich Sehnsucht nach uns“, stöhnte das Mädchen.
„Ja klar, nach dir!“, vermutete ein Rothaariger mit Bürstenschnitt. Und ergänzte: „Ey, wollen Sie die haben? Fünfzig Euro! Nee, hundert!“
Während das Mädchen wieder einmal wild drauflosprügelte, diesmal den Rothaarigen, sah sich Nikolaus genötigt, auch an dieser Stelle seine Demütigung komplett zu machen. So, als hätte er mit den Fünfen einen fröhlichen Abend verlebt, gab er überflüssiger Weise den Grund für sein abermaliges Auftauchen an: „Schlüssel vergessen.“
Dabei kam auch ihm seine Stimme so dünn und knabenhaft vor, dass er sich über den erneuten Lachsturm auf der Bank keineswegs wunderte.
Noch lange hörte er die Jugendlichen hinter sich gackern und jubeln. Wie konnte er sich nur so verhöhnen lassen? Den Einfall, ein weiteres Mal zurückzukehren, um die Unverschämten zur Rede zu stellen, vielleicht sogar zu züchtigen, setzte er glücklicherweise nicht in die Tat um; wer weiß, wie er sich bei diesem Unterfangen blamiert hätte ... Womöglich wäre er gestürzt und der muskulöse Menschenfreund hätte ihm die Kehle zugedrückt. Nun ja, eine Möglichkeit.
Der Regen fiel gleichmäßig, nicht sehr ergiebig, doch es genügte, um die Kleidung nach und nach vollständig durchzuweichen. Für eine halbe Stunde bot das Neubauviertel die öde Silhouette für Nikolaus Henns seltsame Nachtwanderung. Kahle weiße Häuser, Autos davor, Mülltonnen, ordentlich abgestellt, fabelhaft hässliche Laternen ... Allmählich bildete sich eine Idee heraus: Er würde ins Zentrum vordringen, in die Altstadt. Am Studentenwohnheim wollte er stehenbleiben, dort, wo er einmal gewohnt hatte. In „leichteren Zeiten“, wie Annedore sich auszudrücken beliebte. Er würde hinunter zum Neckar spazieren und am Ufer sitzen bleiben. Von dort aus würde man weitersehen.
Jede Menge Lebende
Im Kelterhof zu Großvillars sah man sich in diesem Frühjahr mit einer in diesem Ausmaß und zu solcher Zeit ungewöhnlichen Problemlage konfrontiert: Es war viel zu trocken, seit Wochen schon. Nur ab und zu spritzte es einmal vom Himmel, rasch verdunstend, nicht nennenswert. Man sprach bereits vom trockensten Frühling seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – wobei aufmerksamen Zeitgenossen auffallen musste, dass an diesen Meldungen über permanente Rekorde irgendetwas nicht stimmen konnte: der wärmste Sommer, der kälteste Winter, der windigste Herbst, der trockenste Frühling ... und alles und immer: seit Beginn der Wetteraufzeichnungen! Hat es denn früher überhaupt kein Wetter gegeben? War denn alles immer nur wohlausgewogene, nach Bedarf steuerbare, lebensfreundliche Normalität gewesen? Armin Schäufele ließ sich nicht nervös machen. Er ruhte in dem Bewusstsein, dass seine Reben tief genug wurzelten. Die meisten waren vor über dreißig Jahren gepflanzt; ein paar Wochen Trockenheit würden sie leicht überstehen. Ein zeitiger Austrieb brachte allerdings das Risiko mit sich, dass der Frost die jungen Triebe zerstört. Zudem, den Junganlagen täte baldmöglichst etwas Feuchtigkeit wohl ... Nun, man würde abwarten. Bislang war dem Winzer noch immer etwas eingefallen.
Die Weinberge Großvillars liegen zum überwiegenden Teil an geschützten Hängen. Großflächenweinbau wie in Rheinhessen oder in der Pfalz ist im gesamten Kraichgau unbekannt; man hatte es stets mit kleinen Parzellierungen zu tun. Bereits im Spätmittelalter waren die Reben aus der Ebene hinauf an die Hänge gewandert; gut beratene Fürsten hatten der Volksernährung den Vorzug gegeben: „Wo ein Pflug kann gehen, soll kein Rebstock stehen“, hatte man dekretiert. Von dieser Maßnahme profitieren die Winzer bis heute. Doch der klimatische Vorzug der steilen Lagen wirkt sich nicht nur auf den Schutz der Trauben aus: Auch die Qualität der Weine ist entsprechend hoch ... und wird von Jahr zu Jahr höher. Die Weinbauern lernen dazu; seit Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts schicken immer mehr Winzer ihre Kinder an die önologischen