Sie nahm meine Hand.
„Also, was soll ich für dich tun?“
Ich blickte sie nachdenklich an.
„Es muss vorher noch einiges geklärt werden, auch dabei brauche ich dich und ohne dich würde es wahrscheinlich nicht gelingen. Es ist alles noch etwas theoretisch, aber ich habe beschlossen, ich muss die Sache angehen. Ich bin nicht das dumme Schäfchen, das geschlachtet wird.“
Ich erklärte ihr genau, was sie für mich tun könnte.
Eine Stunde später donnerte sie auf ihrem Motorrad mit den riesigen Satteltaschen den Berg hinunter.
Nachdenklich blieb ich zurück und erhielt kurze Zeit später einen Anruf von Jan, der mich ziemlich aufmunterte. Er war schon in der Nacht direkt nach unserem Gespräch mit Erfolg tätig geworden.
Ich setzte mich ganz nach vorne direkt neben die weiße Brüstung unter einen Sonnenschirm mit dem Blick hinunter auf die herrliche Kulisse. Nachdem ich mir nach einer kleinen Besinnungspause meine juristische Tasche geholt hatte, nahm ich ein Aktenbündel mit diesen prägnanten roten Einbänden, die den strafrechtlichen Inhalt anzeigen, heraus. Ich öffnete seufzend das erste Heft und löste etwas die Aktenschnur. Gegenüber meiner sehr sachlichen Büroatmosphäre im Landgericht Karlsruhe eine eigentlich eher schon unwirkliche Situation in dieser romantischen Umgebung.
Und als fast irreale Steigerung dazu noch die sogenannte „Badische Aktenordnung“. Ein unglaubliches Überbleibsel aus dem 18. Jahrhundert in der Justiz. Das Zusammenhalten der Seiten mit einem kleinen Schnürchen links oben, das durch zwei winzige Löcher in allen Blättern samt den Aktendeckeln durchgefädelt und dahinter mit dem „Badischen Aktenknoten“ zuverlässig zusammengebunden wird.
Die erforderlichen speziellen Locher und auch die Aktenstecher, mit denen man die Seiten durch Einführen in die kleinen Löcher exakt übereinander anordnet, damit das Schnürchen durchgeschoben werden kann, wurden übrigens – letztere sehr nachvollziehbar unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen – über Jahre im Gefängnis in Mannheim hergestellt.
Durch die Lockerung der Schleife ist es möglich, unkomplizierter und freier mit den verschiedenen Seiten zu arbeiten als mit einem Schnellhefter. Eine äußerst bequeme und praktische Methode für den Kenner des Systems, ein absolutes Gräuel für den, der es nicht kennt.
Eine einmal von mir auf entsprechende Anforderung an das Landgericht Hamburg übersandte, überaus sorgfältig badisch gebundene, besonders dicke Akte wurde mir in einem großen Karton zurückgesandt. Darin ein vollkommen ungeordnetes Paket von einzelnen Seiten und ein wütendes Schreiben, ich möge die Seiten gefälligst wieder selbst auffädeln. Was ich dann auch tat.
Den Hamburger Kollegen, bei dem sich wahrscheinlich in Unkenntnis des „Badischen Aktenknotens“ die Seiten auf dem Fußboden seines Büros verteilt hatten, in einer Antwort vom Vorteil unseres Systems zu überzeugen, erschien mir bei aller Weltoffenheit der norddeutschen Menschen eher aussichtslos.
Aktenordnung hin oder her, jedenfalls war es ja nun eigentlich meine Absicht auf der Anreise gewesen, mich mit dem Prozess zu beschäftigen. Aber Spaß machte es mir nicht gerade. Und ich hatte mich auf ein äußerst übles, sehr schwieriges und langwieriges Verfahren vorzubereiten.
3
Neben der Tankstelle bei Kilometer 1027 standen zwei schmutzige Riesenlaster mit spanischen Nummernschildern parallel zueinander geparkt. Von den Fahrern war weit und breit nichts zu sehen. Kein Fahrzeug an den Tanksäulen. Das gestreckte, flache Gebäude mit dem braunen Dach wirkte neu, aber schon etwas heruntergekommen. Auf der linken Seite war ein Café oder Restaurant integriert. Aber auch durch dessen Fenster war niemand zu erkennen. Alles wirkte irgendwie trostlos.
Ich fuhr in großem Bogen hinter das Haus. Mein roter Lancia war ziemlich auffällig, und es musste nicht unbedingt sein, dass man ihn schon von der Carretera N-340, auf der die Lastwagen mit Höchstgeschwindigkeit und extrem kurzen Abständen zueinander vorbeidonnerten, sehen konnte. Auch meine Freunde mit ihrem schwarzen Mercedes könnten dabei sein. Ich war sicher, dass sie auf der Suche nach mir waren. Und denen wollte ich nun wirklich nicht begegnen.
Ich stellte mich halbverdeckt so auf, dass ich aus dem Auto doch noch einen ganz guten Blick auf die Straße in Richtung Barcelona hatte. Von dieser Seite musste meine Sendung kommen. Aber es konnte dauern.
Meine Nachtruhe war nicht so ausgeprägt gewesen, und ich merkte, dass ich immer wieder leicht einnickte. Ich stieg deshalb aus dem Auto aus, ging einige Male hin und her, lehnte mich dann seitlich ans Auto. Ein kleiner Laster mit Hänger fuhr in die Tankstelle ein, und ich merkte auf. Aber es war wieder ein spanischer. Keiner aus Deutschland.
Drüben hinter der Carretera stieg das Gelände leicht an. Zunächst in der Ebene noch die ausgedehnten, grünen Artischockenfelder, dann ging es aber steil hinauf zu den schroffen, grauen Felsen der Sierra d‘Irta. Links oben die dunklen Gemäuer der Ruine des Castillo de Xivert. Und rechts auf dem letzten Gipfel die in der Nachmittagssonne glänzenden weißen Wände der Ermita Santa Lucía.
Es kam mir ganz unwirklich vor, dass ich erst gestern auf der anderen Seite der Bergkette flüchtend die Hänge hinaufgehetzt war.
Gegenüber in einer Ecke am Rand des leeren Parkplatzes stand ein dunkelgrauer Kombi mit schwarzen Seitenscheiben. Daneben ein Plastikstuhl unter einem Sonnenschirm. Wahrscheinlich wartete hier eine Vertreterin des horizontalen Gewerbes auf einen Kunden.
Am Anfang hatte ich nicht gewusst, was diese Plastikstühle und dahinter meist ein geparktes Auto zu bedeuten haben, die man vereinzelt an der Carretera sehen konnte, in den kleinen Einfahrten zu den Orangen- oder Artischockenfeldern. Irgendwann erklärte mir ein Bekannter, dass es Prostituierte waren, Frauen aus Osteuropa, vielleicht auch Spanierinnen, die hier ihrer Arbeit nachgingen. Es waren weiße oder rote Plastikstühle, aber mein Freund konnte mir nicht sagen, ob das etwas zu bedeuten hat. Eventuell, so überlegte ich, ergab sich daraus der Hinweis auf ein unterschiedliches, spezielles Angebot. Es hätte mich natürlich schon ziemlich interessiert, aber ich traute mich nicht anzuhalten, um diese Frage mit den Damen zu besprechen.
Ein röhrendes Signalhorn ließ mich hochschrecken. Ein schwarzer, langgestreckter Sattelzug bog von der Carretera in die Zufahrt zur Tankstelle. Der Fahrer betätigte zweimal die Lichthupe und schwenkte sein Gefährt dann in großem Bogen hinter das Gebäude neben mein Auto. Das Autokennzeichen begann mit dem vertrauten „KA“ für Karlsruhe.
Er bremste sein Gefährt ab. Das Fahrerhaus erzitterte, schüttelte sich wie ein mächtiges Tier, als mit einem tiefen, stotternden Brummen und zischenden Luftgeräuschen das Dröhnen des Motors verstummte.
„Maximilian?“, rief mir der verblüffend junge, schlanke Bursche zu, der aus dem Laster sprang und mir die Hand entgegenstreckte. „Ich bin Harry.“
Harry war ziemlich plaudrig, vielleicht als Folge der langen, einsamen Fahrt, und erzählte mir bei einem Café con Leche im Tankstellen-Imbiss, dass eigentlich sein Vater die Tour hätte machen sollen. Aber der hatte sich den Fuß verstaucht. „Ich finde es nicht schlecht, dass ich auf diese Weise mal hierher komme und noch weiter nach Südspanien“, lächelte er mich an. „Ich war noch nie dort.“
Er erzählte mir, dass sein Vater große Stücke auf meinen Freund Jan hielt, weil der ihm mal in einer üblen Situation geholfen hatte. „Es ging damals um viel Geld“, schloss er etwas dubios.
„Jedenfalls soll ich Ihnen etwas übergeben.“ Er lief raus zu seinem Lastwagen und kam nach einem kurzen Augenblick mit einem kleinen Päckchen in braunem Packpapier zurück. „Hier ist die geheimnisvolle Sendung.“ Er zwinkerte mir zu. „Ich schätze, das ist die leichteste Fracht, die unser Vierzigtonner jemals quer durch Europa gefahren hat.“
Als ich keine Anstalten machte, es zu öffnen, sah er mich etwas neugierig an. „Mein Vater hat gesagt, ich bräuchte nicht zu wissen, was drin ist. Drogen seien es jedenfalls nicht.“ Er grinste mich an. „Und schließlich sind Sie ja Richter, wie ich