So wie wir auf unverantwortliche Weise zur Zerstörung beigetragen haben, müssen wir nun dringend an der Regeneration der Erde arbeiten. Die Heilung der Erde fällt nicht vom Himmel, sie muss vielmehr das Ergebnis unserer Mitverantwortung und einer erneuten Sorge der gesamten Menschheitsfamilie sein (Colon 2007, 108 – 119). Deshalb bildet die Option für die Erde den neuen zentralen Bezugspunkt des weltweiten Denkens und der weltweiten historisch-gesellschaftlichen Praxis. So dramatisch die Situation auch ist: Wir glauben dennoch fest daran, dass der Mensch nach Millionen Jahren Evolutionsgeschichte nicht für ein solch tragisches Ende vorherbestimmt ist. Er hat keinen Grund, zum Satan der Erde zu werden, er kann vielmehr ihr Schutzengel sein. Seine Berufung ist es, für die Erde Sorge zu tragen wie jemand, der einen Garten – wie den Garten Eden – kultiviert (Boff 2002, 89 – 93). Dies ist die Lehre, die den ersten Seiten der Heiligen Schrift der Juden und Christen, die mit dem Buch Genesis beginnt, entnommen werden kann.
Angesichts dieser Situation ist die Erde tatsächlich zum großen Objekt der Sorge und Liebe der Menschen geworden. Sie ist nicht das physische Zentrum des Universums, wie man in der Antike und im Mittelalter annahm, doch sie wurde in den letzten Jahren zum Zentrum der Affektivität der Menschheit (Toolan 2001, 22 – 44). Wir haben keinen anderen Planeten, auf dem wir wohnen könnten. Hier haben wir uns entwickelt. Von hier aus betrachten wir das gesamte Universum. Hier lieben, weinen, hoffen, träumen wir und empfinden Ehrfurcht. Von der Erde aus beginnen wir unsere große Reise zum Jenseits, zum neuen Himmel und zur neuen Erde.
Allmählich entdecken wir, dass der höchste Wert darin besteht, das Weiterbestehen des Planeten Erde – des Erbes, das uns das Universum und Gott übereignet haben, um es zu behüten und zu vervollkommnen – sicherzustellen. Doch dieser Wert besteht auch darin, die physisch-chemischen, ökologischen und geistigen Bedingungen für die Selbstverwirklichung der Gattung Mensch, der gesamten Gemeinschaft des Lebens und jedes einzelnen ihrer Mitglieder so umfassend und solidarisch wie möglich zu garantieren (O’Murchu 2002, 197 – 206).
Aufgrund dieses neuen Bewusstseins sprechen wir vom Prinzip Erde, das eine neue Radikalität begründet. Jeder Wissenszweig, jede Institution, jede spirituelle und religiöse Tradition und jede einzelne Person müssen sich folgende Frage stellen: Was mache ich, um die gemeinsame Heimat, die Erde, zu erhalten und ihre Zukunft zu sichern, die aus dem bereits 13.700 Millionen Jahre alten Universum hervorgegangen ist und es wert ist, weiter zu bestehen? Auf welche Weise trage ich dazu bei, dass die Menschheit weiterhin am Leben bleiben, sich entwickeln und ihr weltweites Projekt verwirklichen kann? Das ist der Sinn unseres vorliegenden Buches „Die Erde ist uns anvertraut“: Die Lösung für die Erde fällt nicht vom Himmel.1
Die hier dargebotenen Überlegungen stehen in engem Bezug zum Hauptanliegen, das uns in den letzten Jahren beschäftigt und seinen Niederschlag in Vorlesungen, Tagungen und Artikeln gefunden hat (s. meine einschlägigen Zeitschriftenartikel und Bücher im Literaturverzeichnis).
All diese Überlegungen haben zum Ziel, eine neue Liebe und ein überwältigendes Gefühl der Ehrfurcht für die Erde zu erwecken. Diese Erde ist, wie wir weiter unten sehen werden, ein lebendiger Großorganismus, sie ist Gaia (griechisch: Erde), unsere gemeinsame Heimat, die Pacha Mama (Mutter Erde) unserer lateinamerikanischen Völker, die Mutter und Schwester des Franz von Assisi und von uns allen. Unser Schicksal ist an das ihre geknüpft. Und weil wir Erde sind, wird es ohne die Erde keinen Himmel für uns geben.
Angesichts der dramatischen Situation aufgrund der Klimaveränderungen scheint es uns dringend notwendig zu sein, das Prinzip Erde und die Option für die Erde zu betonen. Die Heilung der Erde wird das Ergebnis einer neuen Praxis sein, die von der Logik des Herzens, der Sorge, dem Mitleid, der Mitverantwortung, der empfindsamen Vernunft und der spirituellen Intelligenz geprägt ist. Diese Eigenschaften werden uns helfen, zu einem vernünftigen, solidarischen und demokratischen Umgang mit den Ressourcen und Gaben zu finden – sie alle sind endlich, einige sind erneuerbar und andere nicht –, die die Erde für die Gemeinschaft des Lebens bereithält.
Erstes Kapitel:
Die Lebensgeschichte der Erde
Die überwiegende Mehrheit der Menschen kennt nicht die Geschichte des Hauses, das sie bewohnt: der Erde. Sie kennt nicht einmal ihr eigenes unmittelbares ökologisches Umfeld. Sie weiß nicht, wie sich die Böden gebildet haben, wie alt die Berge ihrer Region sind, wie viele Tier- und Pflanzenarten das lebendige Ökosystem bilden. Sie kennt kaum die Geschichte der Menschen in der eigenen Gegend, weiß kaum, wer sie früher bewohnt hat, welche Helden, Künstler, Dichter, Heilige und Weise es dort gab. Wir alle sind mehr oder weniger ökologische Analphabeten, wissen nichts über den Ursprung der Erde und unsere eigenen Anfänge. Viele interessiert es nicht einmal, warum sie auf dieser Welt sind, was ihre besondere Stellung innerhalb der Gesamtheit der Lebewesen ist, und noch viel weniger beschäftigt sie die Frage, welches ihre Aufgabe angesichts des Universums und der Gemeinschaft des Lebens ist.
Nun, da die Erde und die Menschheit Gefahr laufen, großen Schaden zu nehmen, möchten wir dringend wissen, wie wir in diese Situation geraten sind. Doch zuvor ist es notwendig, die Biographie der Erde zu kennen und zu wissen, wie wir selbst aus ihrem Inneren, aus ihrem geheimnisvollen und aufnahmebereiten Mutterschoß hervorgegangen sind.
1. Wie die Erde entstand und Gestalt gewann
Im Folgenden möchten wir in knapper Form die Hauptabschnitte des Lebens der Erde beschreiben (vgl. Boff 1995; Brahic 2001; De Duve 1997; Hawking 1992, 2001; Küng 2007).
Zuerst gab es die Ursprungsquelle allen Seins, diesen unbenennbaren und praktisch unendlichen energetischen Hintergrund, der dem gesamten Universum und jedem einzelnen Wesen, das existiert, zugrunde liegt. Die Astrophyiker nennen das „Quantenvakuum“. Das ist eine in gewisser Weise unzutreffende Bezeichnung, denn das Vakuum, auf das man sich bezieht, ist alles andere als ein Vakuum im landläufigen Sinne. Es ist von einer unergründlichen und geheimnisvollen Energie erfüllt. Es ist das Zuvor des Zuvor, allem vorausliegend, was existiert und existieren kann, selbst dem Raum und der Zeit.
Zweitens: Aus diesem geheimnisvollen energetischen Hintergrund ging ein unendlich kleiner Punkt hervor, der jedoch von außerordentlicher Dichte und unvorstellbar heiß war. In ihm war alles in verdichteter Form da: Energie, Materie, Information, Raum, Zeit und praktisch alle Wesen, die später im Lauf der Evolution entstanden sind. Wir wissen nicht, warum, aber dieser Punkt dehnte sich aus, bis er schließlich die Größe eines Apfels erreichte, und explodierte mit einem Knall, der so gewaltig war, dass die Wissenschaftler sein entferntes Echo noch heute über die sogenannte „Hintergrundstrahlung des Universums“ vernehmen können. Dabei handelt es sich um eine Strahlung von äußerst niedriger Frequenz und konkret von drei Grad Kelvin.
Unmittelbar nach dieser großen Explosion entstanden Materie und Antimaterie zu praktisch gleichen Anteilen. Innerhalb einer Milliardstel Sekunde begann alles so weit abzukühlen, dass die ersten Elementarteilchen, die Quarks und die Antiquarks, entstehen konnten. Diese stießen nun miteinander zusammen und begannen sich gegenseitig zu zerstören. Sie setzten dabei ein energiehaltiges Photon frei. Die Symmetrie war aber nicht vollkommen. Innerhalb einer jeden Einheit von je einer Milliarde Quarks und Antiquarks gab es ein Quark zu viel. Und genau aus dieser überaus kleinen Restmasse bildete sich das gesamte Universum, das sich über eine riesige Ausbreitung von Gasen und daraus entstehender Materie entwickelte. In dem Maße, in dem es sich abkühlte, bildeten sich weitere Elementarteilchen wie die Protonen, die Neutronen, die Elektronen, die Positronen und die dunkle Materie. Aus der Verschmelzung dieser Elementarteilchen entstand das erste, einfachste Element, das Helium, das das gesamte Universum erfüllt. Es entstand Hunderttausende von Jahren vor dem Wasserstoff.
Die Ursprungsenergie, die einfach „Energie X“ genannt wird, entwickelte sich zu den vier Kräften, die dem gesamten Kosmos und jedem Wesen in ihm zugrunde liegen: Die Gravitation, die elektromagnetische Kraft, die starke und die schwache Kernkraft. Zusammen mit der Lichtgeschwindigkeit bilden diese vier Kräfte die kosmologischen Grundkonstanten. Sie alle wirken stets zusammen und verwandeln so das ursprüngliche Chaos in neue Ordnungen und komplexe Strukturen.