Johanna hob jubelnd die Arme.
„Sie muss es ihm zurückgeben“, sagte ich. „Es war ein Fehler von ihm. Nicht fünfzig Euro. Das wollte er nicht. Du hast doch selbst gesagt, dass er spinnt.“
„Ist das mein Problem?“, fragte Johanna. „He, er hat mich nicht angemacht oder so, er hat nicht mal einen blöden Spruch losgelassen. Dann hätte ich es natürlich nicht genommen.“
„So leicht ist das aber nicht“, sagte ich.
„Doch, so leicht ist das“, sagte sie und ging hinaus.
Natürlich war diese kleine Szene harmlos, verglichen mit anderen Streitigkeiten, die wir – vor allem ich – mit Johanna in letzter Zeit gehabt hatten.
Aber ich war nicht bereit, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Wie kam er dazu, unserer Tochter Geld zu schenken? Lag es daran, wie Eveline meinte, dass ihn sein Schuldgefühl quälte? Oder dass er kein Gespür für Geld hatte – was, wie sie sagte, doch ganz sympathisch sei.
Für mich sah die Sache anders aus. Ich hielt sie für inakzeptabel.
Als ich Eveline das sagte, schüttelte sie den Kopf.
„Menschen treiben manchmal komische Sachen. Wenn du wüsstest, Sascha, was die Leute alles anstellen, um ans Ziel ihrer Wünsche zu kommen.“
Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Vermutlich meinte sie die immer wieder vorkommenden Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedern der Theatergruppe, in der mitunter erbitterte Kämpfe bei Besetzungsfragen ausgefochten wurden.
Ich musste mir eingestehen, dass ich jetzt anfing öfter über Frank nachzudenken und ihn nicht mehr aus dem Kopf bekam. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht und mir scheinbar zufällig in der Galerie begegnet, die in demselben Haus war, in der auch mein Büro lag. War das wirklich ein Zufall gewesen? Oder nicht eher eine Inszenierung (wie ja auch das Treffen auf dem Gutenbergplatz, das offensichtlich von ihm arrangiert worden war).
Da ich meine Arbeit als täglichen Kampf empfand, als mühsames Halten der Stellung, als nicht endendes strategisches Vor und Zurück, wurde ich eine gewisse Erschöpfung nie ganz los. Gleichzeitig war ich oft unfähig einzuschlafen, lag nachts stundenlang wach und kam morgens müde und mit schmerzenden Muskeln ins Büro.
In dieser Verfassung war mir ein Gestrandeter wie Frank Kalina ganz recht. Er war verzweifelt und suchte händeringend irgendwo Anschluss; er schenkte Johanna viel zu viel Geld, um sich ihr und uns gewogen zu machen; er war ein Schauspieler ohne Karriere, der seine Erfolge in einer freien Theatergruppe suchte.
Ich betrachtete sein bisheriges Schicksal ohne jede Häme. Vielleicht war er schuldlos, vielleicht hatte ihm der Amerikaaufenthalt tatsächlich geschadet; er war zu jung gewesen, um einzusehen, dass es der falsche Weg war, und als er zurückkam, war er aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage auf den geraden Weg zurückzufinden.
Er tat mir leid, trotzdem wollte ich keinen Schritt auf ihn zu machen. Ich vergrub mich in mein Büro, verriegelte die Tür und machte mir einen schwarzen Kaffee. Dann verschwand ich für die nächsten Stunden nach Indonesien, Sumatra und Bali, Aceh und Thailand, überall dorthin, wo der Tsunami 2004 seine Spuren hinterlassen hatte.
Dass diese Katastrophe eine Viertel Million Menschen das Leben gekostet und nahezu zwei Millionen Küstenbewohner auf einen Schlag obdachlos gemacht hatte, konnte sich niemand vorstellen. Das Wüten selbst – das Seebeben und die anschließende Monsterwelle – blieb im Grunde abstrakt. Wellen so hoch wie Häuser kamen auf breiter Front angerast und rissen jeden Widerstand mit sich. 15 kleinere Inseln versanken unter dem Meeresspiegel.
Sogar auf die Rotation der Erde hatte diese Naturkatastrophe Auswirkungen gehabt: Nach dem Seebeben hatte sich die Erdachse nachweislich um mehrere Zentimeter verschoben – exakt um zweieinhalb Zentimeter – und die Rotation hatte sich seitdem geringfügig beschleunigt, die Tage waren um ein paar Mirkosekunden kürzer geworden, genau seit dem 26. Dezember 2004.
Eine Ahnung von Auflösung, Chaos, Vernichtung durch kosmische Kräfte werden heutige Menschen nie ganz los. Die Angst ist ihr ständiger Begleiter. Mich interessierte genau diese diffuse Angst, diese dunklen Vorahnungen einer globalen Katastrophe. ReFuge Nr. 50 sollte sich mit den zeitgenössischen Schreckensszenarien auf produktive Weise auseinandersetzen. Natürlich nicht in billig voyeuristischer Weise. Statt Untergangsstimmung zu erzeugen, sollten die Geschichten deutlich machen, wie sich das Seelenleben heutiger Menschen veränderte, wenn sie in zunehmender Dichte mit großen Katastrophen konfrontiert wurden.
Ich stellte mir vor, dass es keinen Schutz gab vor dem elementaren Schrecken, er verfolgte die Menschen überall hin, kroch ins Haus, ins Zimmer, ins Bett hinein und besuchte sie in ihren Träumen. Statt eines Gefühls von Geborgenheit beherrschte sie die Ahnung totaler Hilflosigkeit. Die Angst wurde selten fassbar, rumorte im Stillen, doch manchmal kam sie über sie, vor allem dann, wenn sich erneut irgendwo auf der Welt ein unfassbares Desaster ereignete.
Auch der Anblick Kalinas weckte bei mir dunkle Ahnungen, er vermittelte trotz seiner scheinbaren Souveränität den Eindruck von ständiger Getriebenheit. Es kam immer häufiger vor, dass ich beim Herausarbeiten von Charakteren, beim Verfassen von Alltagsglossen an ihn dachte. Seine Physiognomie war mir hilfreich, wenn ich Feuilletons vom heutigen Leben schrieb.
Ich verabredete mich nach einer Woche wieder mit ihm in jenem Bistro am Gutenbergplatz. Ich wollte ihm die 50 Euro zurückgeben. Doch an diesem Tag wirkte er so niedergeschlagen, dass ich mein Vorhaben aufschob.
Etwas an ihm stimmte mich misstrauisch, ich konnte nicht genau sagen, was es war, vielleicht jener „Minimalismus“, den Eveline an ihm beobachtet hatte und der mir irgendwie unehrlich erschien. Er schaute ins Weite, während er in ruhigem Ton erzählte, dann fixierte er mich wieder mit schwermütigen Augen, so dass seine Ausführungen nie monoton wirkten.
Sein Lebensrückblick ließ unterschiedliche Deutungen zu: Er hatte schlichtweg versagt; er hatte Pech gehabt; er war unfähig gewesen Entschlüsse zu fassen; er hatte die falschen Leute kennengelernt. Alles traf in gewisser Hinsicht auf Frank Kalina zu, aber es blieb immer ein unerklärter Rest. Er sagte, er habe viele Jahre lang großes Heimweh nach Deutschland gehabt, sich aber den Rückkehrwunsch nicht erfüllen können.
„Warum nicht?“, fragte ich.
„Es war nicht möglich, ich konnte nicht, ich fühlte mich gezwungen in Teneriffa zu bleiben, wo ich mich als Animateur verdingte und als Reiseverkäufer arbeitete. Wohin hätte ich ziehen sollen, in welcher Stadt wohnen? Es waren lauter verbotene Städte für mich: Frankfurt, Freiburg, Berlin. Ich konnte mir nicht vorstellen an einem dieser Orte neu anzufangen.“
„Dann war dein Heimweh wohl nicht stark genug, andernfalls wärst du doch einfach gekommen. Wer oder was hätte dich daran hindern sollen?“
Er schwieg mit einem Ausdruck unterdrückter Verzweiflung im Gesicht.
Es war Nachmittag, wir hatten wieder den Loungebereich besetzt, saßen in Sesseln am niedrigen Tisch; leise säuselte Radiomusik im Hintergrund. Frank begann zu schwitzen, seine Wangen glänzten; er sprach wie unter Anstrengung und schien sich nicht entspannen zu können.
„So einfach war es nicht. Ich fühlte mich sicher, solange ich in der Ferienanlage arbeitete. In Deutschland hätte ich mir mein Scheitern sofort eingestehen müssen. Ich spürte zwar, dass ein riesiges Loch in mir war, aber wenigstens hatte ich dort meine Ruhe. Ich hatte Kollegen, denen es ähnlich ging wie mir, die aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht waren. Manche hatten Schulden in Deutschland, andere waren aus ihrer Ehe geflohen, hatten Kinder, um die sie sich nicht kümmerten.“
„Aber du warst doch nicht auf der Flucht“, sagte ich, „ich verstehe das wirklich nicht.“
Er seufzte schwer. „Es war dieses Milieu, in das ich hineingeraten war. Statt etwas anzupacken, die Schauspielerei endlich professionell zu betreiben, saß ich lieber auf der Pool-Terrasse in Spanien, unterhielt mich mit einer Kollegin und wartete auf die Touristen, um sie zu bespaßen.“
Er