Das Ring-Pendel
1945
Als in den ersten Junitagen des Jahres 1945 die Vorhut der sowjetischen Besatzungstruppen auf kleinen Panjewagen die Stadt Wernigerode erreicht hatten, waren die schlesischen Flüchtlinge im Hause des Großvaters längst in Panik nach Westen in die englische Besatzungszone aufgebrochen. Sie setzten ihre Flucht vor „den Russen“ aus dem eingeschlossenen Breslau während der eisigen Januartage desselben Schicksalsjahres fort.
Der zu diesem Zeitpunkt elfjährige Enkel des Großvaters bedauerte den Abzug der Kaugummi kauenden Amerikaner mit ihren Jeeps. Allein die Flüchtlinge schienen hellsichtig genug zu sein um zu erkennen, dass dieser Exodus mehr bedeutete als ein Tauschgeschäft, das den Westalliierten erlaubte, in Berlin Fuß zu fassen; sie erahnten in ihm schon die zukünftige Teilung der Hemisphären. Das Haus des Großvaters stand schon nicht mehr auf dem Boden dessen, was man von nun an „die westliche Welt“ zu nennen pflegte – und der Brocken, Wanderziel deutscher Dichter von jeher, bei dem man „an die große mystische Nationaltragödie vom Doktor Faust“ zu denken hatte, sollte schon sehr bald zum Standort der effektivsten Spionage- und Ausspäh-Installation der östlichen Welt werden: permanente Walpurgisnacht der Radar-Hexen auf dem Zaun der Welten-Scheide.
Als die Flüchtlinge damals im März 1945 in die bunte Stadt am Harz gekommen waren, sammelten sich auf dem Brocken eigentlich schon verzweifelte Wehrmachtssoldaten zum letzten Gefecht. In der Stadt herrschte Chaos, Tumult und Aufregung; die Front im Westen rückte näher; Aachen war als erste deutsche Stadt gefallen; britische und amerikanische Truppen überschritten den Rhein; die siegesgewissen Geschichtslehrer in den Schulen gerieten an den Landkarten, auf denen sie die Frontverläufe aufzuzeigen und zu kommentieren hatten, ins Schwitzen. Die Alarmsirenen wurden der raschen Ein- und Überflüge nicht Herr. Am Himmel erschienen die allerneuesten doppelrümpfigen Lightning-Jagdflugzeuge. Die Flüchtlingsströme aus Oberschlesien und Ostpreußen ergossen sich in eine Stadt, deren Hotels, Pensionen und sonstige öffentliche Unterkünfte schon von kriegsverwundeten Soldaten und evakuierten Bombenflüchtlingen aus den Großstädten überfüllt waren. Häftlings-Kolonnen wurden aus den Wernigeröder Zweigstellen des Konzentrationslagers Buchenwald durch Nebenstraßen zum Bahnhof getrieben; die Vernichtungslager im äußersten Osten aber würden sie nicht mehr erreichen. Aus dem Osten kamen im Schutze der Nacht die Flüchtlingszüge an, denen die Fahrt am Tage wegen der Jagdbomberangriffe auf offener Strecke als zu gefährlich galt. Die HJ-Führung befahl Jungvolk-Pimpfe zur Nachtzeit an den Bahnhof, um von dort Flüchtlingsgruppen von Frauen und Kindern durch die Finsternis der im Luftkrieg verdunkelten Stadt zu ihren privaten Zielquartieren zu geleiten. Der Großvater hatte einen HJ-Führer angeschnauzt, was es solle, Elfjährige nächtens zu derartigen Aufgaben heranzuziehen, konnte aber das Argument des HJ-Führers nicht entkräften, es gäbe keine Hilfskräfte außer den ganz jungen Pimpfen, wenigen Krankenschwestern und einigen ziemlich alten Volkssturmmännern, alle anderen seinen im Kriegseinsatz. Gerade war der Jahrgang 1928 zum Kriegsdienst eingezogen worden. Jetzt stand der Enkel auf dem dämmrigen Bahnhof in einer kühlen Märznacht und wartete mit seinen Kameraden auf den Zug aus dem Osten. Nur einzelne gedämpfte Rufe und Befehle hallten aus der Bahnhofshalle auf die Bahnsteige, sonst eine eigentümliche Stille, bedrohlich, angespannt, in Erwartung von Menschen, von denen man nicht wusste, wie man ihnen begegnen sollte. Die Schatten-Gestalten, die dann müde und zerschlagen aus dem Zug stolperten, erschreckten sie durch ihre Teilnahmslosigkeit und ihr Schweigen; wortlos standen sie unschlüssig beieinander, Kinder schliefen in den Armen der Mütter, die schon herrschende Stille umschloss sie wie eine Schutzhülle. Die Pimpfe folgten den Befehlen und machten sich mit den ihnen zugeteilten Menschen auf den Weg durch die dunkle Stadt: keine Straßenlaterne, keine erleuchteten Fenster, Totenstille auf den Straßen. Die Sprachlosigkeit der Flüchtlingsfrauen, die sie geleiteten, begann die jungen Pimpfe zu ängstigen. Wohl wussten sie vage von der furchtbaren Flucht der Frauen aus dem untergehenden Breslau; gehört hatten sie von dem Dresdner Inferno, dem diese schlesischen Flüchtlinge mit knapper Not entkommen waren – und doch konnten sie jene Empathie noch nicht aufbringen, die ihnen hätte sagen können, was in diesen Menschen vorging.
Die jungen Pimpfe konnten der Situation nicht gewachsen sein und reagierten auf das Schweigen mit Angst, die sie sich keinesfalls zugeben wollten.
Auch die zwei jüngeren Frauen mit dem Sohn und der Mutter einer der Frauen, die im Haus des Großvaters während dieser Märzwochen Zuflucht gefunden hatten, waren für ihn fortan von dieser Aura des unnahbaren Schweigens umgeben. So war er verwundert, als eine der Flüchtlingsfrauen ausgerechnet ihn, den Elfjährigen, um ein kleines Gespräch bat; sie müsse ihn um etwas bitten, etwas für sie sehr Wichtiges und Ernstes. Sie erzählte ihm, dass sie und ihre Schwägerin seit ihrer Flucht aus Breslau von ihren Männern nichts mehr gehört hätten – wohl aber erfahren hätten, dass Breslau jetzt irgendwann in den ersten Maitagen von der Roten Armee eingenommen worden sei und dass Schreckliches in der Stadt vorginge. Sie seien verzweifelt. Die Schwägerin habe sich an alte, als abergläubisch verspottete Prozeduren der Schicksalsbefragung auf schlesischen Bauernhöfen erinnert; ausgeführt von Frauen, wobei die Haarsträhne einer Frau, ein Ring und ein Bild beim Auspendeln einer schicksalhaften Option eine Rolle spielten. So kam es dazu, dass er, von den Frauen als Medium auserkoren, mit ihnen in einem abgeschlossenen, dämmrigen Zimmer schweigend an einem Tisch saß und den am Haar einer der Frauen hängenden Ehering über dem Bild des abwesenden Mannes zum absoluten Stillstand zu bringen hatte. Minuten vergingen in jener gespenstischen Stille, in der die Frauen auf den Ring starrten. Setzte sich der Ring von sich aus kreisend über dem Bild in Bewegung, würden sie es als untrügliches Zeichen des Lebens deuten: der Mensch auf dem Bild, über dem der Ring kreist, muss füglich am Leben sein; bleibt der Ring bewegungslos ist es ein Zeichen des Todes. Noch hielt er den Ring bewegungslos über dem Bild. War es Spiel oder Ernst? Ohne dass es ihm bewusst sein konnte, geriet er für diese Minuten in den Strudel des Absurden dieser Tage des Zusammenbruchs, in die Gleichzeitigkeit des Ungeheuerlichen an den entferntesten Orten. Das Kreisen oder der Stillstand des Ringpendels sollte magisch Auskunft geben über Leben und Tod an einem fernen Ort – vielleicht in einem Keller oder Erdloch im schlesischen Breslau. Die Frauen hatten ihn als Medium dieses Orakelspiels in eine Situation gebracht, die er zu seinem Glück nicht durchschauen, aber als schwindelerregend wahrnehmen konnte. Immer noch hatte er den Ring am Haar der Frau über dem Bild stillgehalten, bis er ihn unmerklich in kreisende Bewegung versetzte und damit das ominös-haarsträubende Spiel mitzuspielen begann. Der Augenblick des Stillstands aber: der noch unbewegte Ring am Haar der Frau an seinem Finger, der starre Blick der Frauen, das Schweigen in diesem abgeschlossenen Zimmer im Haus des Großvaters sollten in seinem Gedächtnis haften. Für diesen kurzen Moment wurde er in der von den Frauen inszenierten Farce gezwungen, eine Rolle zu übernehmen auf der Bühne eines absurden General-Theaters, in dem die Verzweiflung lächerlich und die Lächerlichkeit verzweifelt erscheinen musste. Die Schrecken, die das Geschehen außerhalb des Zimmers im Hause des Großvaters prägten, die Exzesse der Vernichtung warfen die Menschen zurück auf Angstzustände, aus denen sie sich in farcenhaften Beschwörungen verlorener Gewissheiten zu erretten suchten. Die Pendelszene mit dem Frauenhaar ließ ihn verwirrt zurück; den Widerschein der allgemeinen Nullpunkt-Situation im Stillstand des Pendels zwischen den Polen von Überleben und Tod konnte er nicht erfassen.
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