„Und heute ist das immer noch so“, sagt Pfarrer Bechthold.
In Freud und Leid zu den Menschen stehen, das gibt auch ein Gefühl von Heimat. Ich ging zu den Leuten nach Hause, anstatt sie in mein Büro kommen zu lassen. Das wäre viel zu förmlich gewesen. So gewann ich ihr Vertrauen. Über 1.200 Beerdigungen habe ich gehalten, Gespräche mit Menschen geführt, die nicht mehr zur Kirche kamen. Ich war ihr Gast, sah wie sie wohnten und lebten, wie sie feierten und wie sie trauerten.
Die Menschen in der Südstadt sprechen noch heute davon. Immer war das rote Pfarrhaus offen und die Haushälterin Maria Berg war die Seele des Hauses, die alle gastfreundlich aufnahm, bekochte und beherbergte. Auch das trug dazu bei, dass das Pfarrhaus in der Südstadt und sein menschenfreundlicher Seelsorger Kontakte zur halben Welt hatten: nach Kanada, nach Russland, nach Indonesien, Sibirien und Polen.
„Wo bleibt unser polnischer Kaplan“, wollten die Südstädtler wissen, wenn der Gast, ein junger Theologieprofessor aus Siedlce, der über viele Jahre regelmäßig in den Sommerferien die Gemeinde betreute, einmal ausblieb.
„ Wir haben in der Südstadt die Integration vorgelebt. Von Anfang an habe ich eine Brücke zur italienischen Gemeinde geschlagen und muslimische Kinder besuchten unsere Kindergärten. Einer muslimischen Frau, die ins Gremium der Elternvertreter gewählt wurde, habe ich gesagt: Sie tragen jetzt eine doppelte Verantwortung für deutsche und muslimische Kinder. Und sie war stolz darauf. Die Südstadt hat gezeigt, wie ein Miteinander verschiedener Nationen aussehen kann.
Dankbar bin ich, dass ich immer noch heimkommen kann an den Ort, wo ich mit meinen sechs Geschwistern aufgewachsen bin und wo mein Vater viele Jahre lang Bürgermeister war, nach dem Krieg Heimatvertriebene aufnahm und sie in die Dorfgemeinschaft integrierte. Er konnte doch nachfühlen, was sie erlebt hatten. Er war ja selbst im 3. Reich als Gegner der Nazis gefährdet gewesen und stand auf der Liste der Regimegegner, die ins KZ abtransportiert werden sollten.
Wenn auch Mannheim die erste Liebe des jungen Kaplans war, Alfons Bechtold will die Erfahrungen als Pfarrer in der Südstadt nicht missen. Die Südstadt wurde im Verlauf der Jahre zu einer Art zweiten Heimat. Die Schauburg zum Beispiel und die Straßen rund um den Indianerbrunnen, wo man mit Freunden an heißen Sommertagen ein kühles Bier trinken konnte. Ein junger Freund, Lehrer und Dichter, schickte dem Pfarrer manchmal auch ein Gedicht mit Gedanken, die die Sonntagspredigt des Pfarrers bei ihm ausgelöst hatten. Der Pfarrer hat ihn nicht vergessen. Oft verweilt er betend auf dem Karlsruher Hauptfriedhof auf der Bank am Grab seines Freundes Bernhard Lott, mit der Aufschrift: „Das Leben ist Abschied.“
Alfons Bechtold ist ein treuer Mensch, der die Begegnungen in seiner Südstadtpfarrei Unsere Liebe Frau in seinem Herzen bewahrt hat. Ja, die Mannheimer waren seine erste große Liebe, aber auch Karlsruhe wurde ihm zur Heimat. „Wenn man keine Heimat hat, wie will man dann Heimat für andere sein?“
Ich habe das keine
Minute bereut
Annette Bernards
Wenn Annette Bernards den Raum betritt, hat man einen Moment lang das Gefühl, dass er heller wird. Das mag an ihrer offenen Art liegen, vielleicht aber auch an ihrem fröhlichen Lachen, mit dem die promovierte Juristin ihr Gegenüber ansteckt. Die schlanke Frau mit den kurzen blonden Haaren wirkt bei aller Verbindlichkeit zielsicher und selbstbewusst. Wenn sie von ihrer Kindheit und Jugend im Viermädelhaus in ihrer Heimatstadt Wuppertal berichtet, bricht immer wieder ihr rheinischer Humor durch.
„Mein Vater hatte es mit fünf Frauen zu tun, seinen vier Töchtern und unserer Mutter, die uns zur Selbstständigkeit erzogen hat.“
Küche, Kirche, das war für sie wichtig und vor allem auch ihr Ehrenamt und kirchliches Engagement. Sie war eine emanzipierte Frau und Mitglied in der kfd und in ihrer Eigenschaft als deren Vorsitzende die „erste kfd-Frau“ in der Diözese Köln.
„Es ist schon vorgekocht“ oder „Guckt mal in den Kühlschrank“, sagte sie einfach, wenn sie ihren ehrenamtlichen Verpflichtungen nachging.
Annette Bernards schmunzelt: „Ich war von uns vier Mädchen der Kopf und machte für meine nächst jüngere Schwester die Hausaufgaben, während sie für uns kochte.“
Wenn Not am Mann war, half die Mutter auch in der Kanzlei des Vaters, die dieser nach seinem Studium in Freiburg von Annettes Großvater übernommen hatte.
„Die Juristerei liegt mir im Blut, aber auch das Engagement für die katholische Kirche hat in meiner Familie eine lange Tradition. Mein Vater war Jurist und im Kirchenvorstand der Gemeinde, was hier in Karlsruhe dem Stiftungsrat entspricht, der sich um die Finanzen, das Personal und die Gebäude der Gemeinde kümmert. Er war auch im Kirchensteuerrat der Erzdiözese Freiburg.“
Ob es nur ein Zufall ist, dass seine Tochter Annette viele Jahre später genau diese Funktion in der Karlsruher Kirchengemeinde St. Stephan und im Kirchensteuerparlament der Erzdiözese Freiburg erfüllte?
„Ich habe immer genau gewusst, was ich will“, sagt die Frau, die heute in Kehl eine Professur an der Hochschule für Verwaltung hat.
„Mit neun Jahren wollte ich zu den Pfadfindern und mit fünfzehn war ich Gruppenleiterin der ,Wichtel‘, organisierte Ausflüge und Gottesdienste und übernachtete mit den Mädchen in Jugendherbergen“, erzählt Annette Bernards.
Verantwortung übernehmen für andere, das gefiel dem jungen Mädchen und sie wundert sich heute noch darüber, dass sie Glaubenskrisen wie andere junge Menschen in der Pubertät nicht erleben musste.
„Ich habe mich immer gefragt, wann kommt das denn endlich, die Zweifel und die Distanz gegenüber der Kirche?“
Sie lacht fröhlich: „Aber sie kamen nicht!“
Als sie dann, wie einst ihr Vater zum Jurastudium nach Freiburg ging, nahm die Gemeinde Dreifaltigkeitskirche die Studentin mit offenen Armen auf.
„Kann ich hier mitmachen?“, habe ich gefragt und die Antwort lautete: „Klar, du kannst hier gleich nächste Woche anfangen!“ „Ich gab den kleinen Finger und gleich war die ganze Hand weg.“
Später dann, in Karlsruhe, wo Annette Bernards nach ihrem 2. Staatsexamen und der Promotion eine Stelle als Richterin am Landgericht bekam und sich wieder in einer Gemeinde engagieren wollte, blieben die Türen verschlossen. „Es hat echt lange gedauert, von 1982 bis 1988, bis ich mich in Karlsruhe heimisch fühlen konnte und akzeptiert wurde.“
Freiburg, das war Heimat, wo sie schon als Kind die Ferien bei der Tante verbracht und im Strandbad schwimmen gelernt hatte. Freiburg, das war der „Ferienort“, die große Liebe, wo sie als junge Juristin wie die meisten ihrer jungen Kollegen nach dem Examen so gerne geblieben wäre.
Karlsruhe, das war die Fremde. Hier mietete sich die junge Richterin in der Lessingstraße nur ein möbliertes Zimmer mit dunklen Möbeln bei zwei alten Damen. Eine Schlafstätte. „Das war furchtbar und deshalb hieß es bei mir am Freitagnachmittag immer: Rasch auf den Zug und nichts wie raus aus Karlsruhe, rasch zurück ins geliebte Freiburg.“
„Aber die Stelle, die ich angetreten hatte, gefiel mir, weil ich endlich umsetzen konnte, was ich gelernt hatte. Als Richterin und später dann als Staatsanwältin hörte ich Lebensgeschichten, die man als ,behütetes Mädchen‘ nicht kannte. Geschichten aus dem Milieu im Jargon der Prostituierten, Drogendealer und Gewalttäter. Ja, von Freiburg konnte ich mich nur schwer lösen trotz der neuen kleinen Wohnung in der Bismarckstraße. Irgendwann erfuhr ich, dass ich zur Gemeinde St. Stephan gehöre, besuchte ein Pfarrfest, setzte mich auf eine der langen Bänke,