Der neue Schaffner fällt nicht weiter auf. Die Luxemburgerin fümmt unverdrossen. Aus ihrem Glasverschlag ist sie nie wieder herausgekommen, mittlerweile sieht man sie kaum vor lauter Dunst, weswegen ihr Mann keine Anstalten macht, sich zu ihr zu gesellen. Nächster Halt: „Laandstool“, wie die Amerikaner sagen. Landstool, Ramstine, Kaiserslaughter, wo Deutschland am amerikanischsten ist. Stripmalls, Straßenkreuzer, Fast Food, das ganze elende Sortiment. Kein Zufall, dass ganz in der Nähe, in Zweibrücken (Two Bridges) das erste Outletcenter der Republik aufgemacht hat. Ramstein ist seit dem 28. August 1988 sogar den meisten Amerikanern in den Staaten bekannt, eine traurige Berühmtheit.
Gleich am Bahnhof wartet die Multisportanlage Topfit auf Kundschaft. Wenn ich die Körperumfänge der Menschen auf den Bahnsteigen betrachte – große Umsätze können sie nicht tätigen. Solange „Promis“ wie Reiner Calmund, der längst über eine Postleitzahl verfügt, als Vorbilder durch die Privatsender walzen, und leider nicht nur dort, darf man sich nicht wundern. Von Landstuhl nach Hauptstuhl, was mich wiederum an meine Cola erinnert. Bruchmühlbach-Miesau. Vor Selbstbewusstsein strotzen die Ortsnamen nicht gerade. Die Westpfalz wird darin nur übertroffen vom Großraum Bad Hersfeld mit so aufbauenden Gemeinden wie Sieglos, Stärklos und Machtlos. Auffällig in dem Zusammenhang die Schlurferei und Schleicherei, mittels derer sich vor allem Jugendliche durch die Gänge bewegen, mit meist herabhängenden Schultern.
We are now entering the Saar Sektor, mithin ein Gebiet von der Größe des Saarlandes. Begeistert hat mich einmal im Saarbrücker Hauptbahnhof der Hinweis auf der Herrentoilette: „Urinal 25 Cent, mit Händewaschen 40 Cent.“ (Am Landauer Hauptbahnhof erfreut den Reisenden ein kleines Täfelchen: „Vorsicht Zugverkehr.“ Überraschung. In Koblenz warnt ein Schild: „Ende des Bahnsteigs. Bitte nicht weitergehen!“ Koblenzer benötigen das.) Den Saarländern sollte man generell nicht ohne Vorbehalt begegnen, schließlich waren sie es, die sich 1956 unbedingt den Deutschen anschließen wollten, freiwillig weg vom Franzos’, da ist Argwohn angebracht. Gerne steigt man in diesem Bundesland auch gruppenweise zu, und circa zwei Minuten nach Abfahrt geht auch schon einer mit der Schnapsflasche und einem kleinen Gläschen rum, das er jedem vollschenkt, und alle trinken aus dem gleichen Gefäß, knapp zwanzig Jahre Sozialdemokratie gehen nicht spurlos vorüber, aber streng genommen ist das die Nichtraucherversion der Haschpfeife. Der Tipp des Tages: Grundsätzlich meide man die Gesellschaft von Personen, die große Kühltaschen in den Waggon wuchten. Einheitliche T- oder Sweatshirts signalisieren ebenfalls Gefahr.
Mit dem Passieren einer Kapelle (im Fenster oben links) wird das Saartal dramatisch – bzw. wurde es früher. Damalsjadamals, da war das unverfälschte Landschaft, geradezu mystisch, nur die Saar und die Gleise, aber keine Asphaltpiste. Heute wird die Saar als Bundeswasserstraße verwaltet. Sattes Grün, der moosfarbene Fluss, Trost spendende, wohlgeordnete Wildnis. Der Ausbau ab 1974 hat alles zuschanden gemacht, wie wenn man eine Märklinanlage mit der Flex bearbeitet und dann geflutet hätte. Im rheinland-pfälzischen Teil darf man schon froh sein, dass man den Fluss nicht kurzerhand überdacht hat wie in Idar-Oberstein. Beeindruckend das Sandsteinwerk südlich von Taben, Regen hat die Erde zu feuerrotem Schlamm zermanscht, von hier bezieht Dante höchstwahrscheinlich die Grundsubstanz für sein Inferno und die Lauterer die Farbe für die Trikots.
Serrig. Das ausladende trierische Einhaus macht sich als Gebäudetyp breit. Bei der fümmenden Luxemburgerin kommt Unruhe auf, Freude bei mir. Auf der Gegenstrecke der Interregio. Schreckliches Ding, dieser Zug stand mir nie, den pastellfarbenen Interregiowaggons mangelte es erheblich an Würde. Stadt-Express ist Klein-Klein, wie man früher im Fußball sagte, man fährt geradewegs durch die kalte Küche. Kein uninteressanter Name übrigens: Express scheint übertrieben, außer man orientiert sich an den Paketlaufzeiten der Deutschen Post. Auch das Städteaufkommen ist übersichtlich. Trotz des üppigen Frühlingsgeblühs ist das Wetter draußen schwer einzuschätzen. Manche kommen im T-Shirt daher, manche in Sweats, auch Mäntel werden gesichtet und Windjacken. Drinnen sieht man gelegentlich Menschen schwitzen, mitunter ziehen sie eine Duftspur hinter sich her, um es mal freundlich auszudrücken. In Nordkalifornien verkehrt zwischen Fort Bragg und Willits der sog. Skunk-Train, alles eine Frage der Vermarktung. Im ICE wird das nicht geduldet, da hat es hygienisch zuzugehen, angestrebt wird der abwaschbare Passagier, der seine Schuhe anbehält. Je weiter wir nach Norden fahren, desto südlicher wird die Landschaft, Triers Werbekonzept vom „südlichsten Norden“ fällt mir ein, wenn es nicht sogar der „nördlichste Süden“ war – ja, wohl doch eher letzteres. So lieblich wie die früheren Tropfen, die aus den Trauben gewonnen werden. Hier zählen keine Ortsnamen, sondern Weinlagen.
In schwindelerregender Höhe, ganz oben am Berg, baggert ein Bagger an neuen Hanglagen herum. Dann das Kontrastprogramm: Konz. Nullstadt. Straßendorf. Ein gelbes Warndreieck mit roter Lok, vor der eine Person in Fallbewegung abgebildet ist. Was soll das sein? Warnung vor Selbstmördern? Oder wird lediglich die optimale Absprungposition für selbige markiert? Wäre bei diesem Kaff nicht unpassend. Bei Konz kommt tatsächlich der Schaffner vorbei, Typ dicklicher Onkel. Bisher habe ich ihn nur von hinten gesehen und trotzdem unter Schnurrbartverdacht gestellt. Er gleicht Gerhard Klarner von den Spätnachrichten im ZDF der 70er und 80er Jahre aufs Haar, dem ich auf diesem Weg ein verspätetes Denkmal setzen möchte. Klaglos hat er über Jahre hinweg den eher freudlosen Mitternachtsdienst versehen und dabei nie den Eindruck erweckt, als hätte er ein Problem damit, im Gegenteil. Allerdings war ich auch zu keinem Zeitpunkt davon überzeugt, er würde seine Meldungen im Zustand vollständiger Nüchternheit verlesen. Zugestiegen? Ich? Tschuldigung, wie unser Exkanzler sagen würde, ich sitze hier seit 44 Haltestellen! Nix da! Ich lächele souverän. Morgen werde ich die Karte zurückgeben. In Trier, droht der Schaffner dafür wenig später über die Hausanlage, könnte ich noch den Interregio nach Bremerhaven-Lehe erreichen. Lehe? Wehe! Die Saar hat sich soeben in die Mosel verfügt und selbige entsprechend verbreitert. Wir passieren das Uranus Gastronomieschiff mit der Bullaugentaverne. Um Himmels Willen, Riverboatshuffle und Partykeller in einem.
1980 bin ich von Trier weggezogen, weil es für einen Dauerreisenden einfach zu weit vom Schuss liegt. Trotzdem kommen bei jedem Besuch Heimatgefühle auf, selbst wenn in der Stadt kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Nur das römische Zeugs haben sie unbehelligt gelassen, allerdings nicht immer. Sie haben einfach zuviel davon. Es gibt, wenn auch spärlich, immer noch alte Bande, die Trierer sind treu, wenn sie sich einmal dazu entschlossen haben, einen zu mögen. Viele sind natürlich weggezogen, aufgestiegen, heruntergekommen, verschollen oder haben ihre leibliche Hülle verlassen.
Der Stadt-Express war ein banaler Zug. Der vollständigen Abwesenheit von Glorie, Glitz und Glamour wohnt allerdings häufig etwas Erfrischendes inne, jedenfalls wenn sie einen nicht unerwartet heimsucht. Meine persönliche Beziehung hat sich verändert, ich kenne jetzt eine Menge kleiner Geheimnisse am Rande. Frühlingshalber präsentiert sich die Strecke als eine langgezogene Kleingartenanlage – genau genommen zieht sich das über alle 45 Stationen hinweg, ob Baden-Württemberg, Saarland oder Rheinland-Pfalz, Schrebergärtner steigen ein und aus und Söhne und Töchter von Schrebergärtnern, die diese unvergleichliche Mischung aus Saumseligkeit und Hemdsärmeligkeit schaffen, die auch der Stadt-Express Nr. SE 23034 atmet, der jetzt mit nur acht Minuten Verspätung in Trier einläuft. Acht Minuten waren damals eine Menge, heute ist das kaum der Rede wert.
Ansagencharts
Manchmal ist der Zug, der heute überraschend pünktlich zu verkehren scheint, ledglich der von gestern. Die Züge halten meist nach der vorgesehenen Zeit – womit sich glücklicherweise sämtliche Wortspiele zum Thema Nachhaltigkeit erschöpfen. Für manche Panne entschädigt uns die Bahn mit einem nie versiegenden Quell von Erklärungen, Durchsagen, Dramoletten, ja: Kurzhörspielen bisweilen, von denen einige, nicht mal wenige nun in zwangloser Reihenfolge zu finden sind, sprachliche Kleinode, die dem Autor zu Gehör kamen bzw. ihm von absolut verlässlichen Gewährsleuten zugetragen wurden, für Sie heute in der kommentierten Fassung.