Daraufhin begann ich es mir zur Gewohnheit zu machen, mich von den Namen (oder den Geschichten), die mein Ego meinen Gefühlen oder Empfindungen gab, abzukoppeln und stattdessen das tatsächliche Gefühl wahrzunehmen. Wenn mir bewusst wurde, dass ich mir gerade selbst sagte, ich sei müde – vielleicht während meiner Mittagspause oder nach einem langen Arbeitstag –, entfernte ich sozusagen das verstandesmäßige Etikett meines Zustands und nahm das tatsächliche Gefühl bewusst wahr. Ich entdeckte, dass dieses Gefühl sehr subtil ist, beinahe so etwas wie ein Reigen verschiedener Gefühlszustände, die mit Worten wie Trockenheit, Zittern und Schwere nur unzureichend erfasst werden können. Ich stellte auch fest, dass das Identifizieren mit dem Gedanken „Ich bin müde“ – oder, wenn die Symptome heftiger waren: „Ich bin erschöpft“ – verschiedene Dinge auslöste: Zum einen wurden so die Empfindungen interpretiert und definiert, noch bevor ich ihrer gewahr geworden war, und zum anderen wurden sie zu einer Geschichte über „mich“, statt dass sie etwas blieben, was ich einfach nur wahrnahm.
Mir wurde bewusst, dass ich in einer alten Gewohnheit des Ego feststeckte: der Gewohnheit, den Dingen Namen zu geben und sich mit diesen Namen zu identifizieren. Außerdem bemerkte ich, dass mein Ego automatisch und nahezu sofort eine zweite Ebene an Gedanken erzeugte, wie beispielsweise das Urteil, ich arbeitete zu viel oder müsse meine Energie besser einteilen. Gleich darauf begann ich mir dann Sorgen zu machen, etwa, ob ich wohl fit genug sei, um das Programm des nächsten Tages durchzustehen, oder ob ich wohl krank werden würde.
Ich brachte mir also bei, aufmerksam wahrnehmend in meinem Körper präsent zu sein und die Nuancen der einzelnen körperlichen Empfindungen und Gefühle zu erleben, die sich zeigten, wenn ich Gedanken hatte wie „Ich bin müde“ oder „Ich bin in Eile“ oder auch „Mir reicht es jetzt.“ Ich entdeckte schnell, dass das Präsentsein bei diesen Empfindungen und Gefühlen sowie das Entfernen jeglicher Etiketten mich in einen leicht veränderten oder auch völlig neuen Zustand brachte. Häufig fühlte ich mich bereits besser und erholter, wenn ich es geschafft hatte, meine wirklichen Gefühle zu identifizieren – also das, was ich empfand, unabhängig von mentalen Prozessen des Benennens, Erklärens und Projizierens in die Zukunft. Selbst wenn ich tatsächlich müde war, handelte es sich nun eher um ein Gefühl des Abgespanntseins, das in seiner Natürlichkeit sogar recht angenehm war.
Ich erkannte, dass die Art, wie ich meinen Zustand benannte, zusammen mit dem Kontext anderer, unmittelbar auf die Benennung folgender Gedanken bewirkte, dass ich mir weitaus müder, erschöpfter oder ängstlicher vorkam, als dies tatsächlich der Fall war. Mit der Zeit lernte ich, dass dies für jede Empfindung und jedes Gefühl zutrifft, selbst für die dunkleren (über die wir später noch sprechen werden). Was Sie also tatsächlich erleben, ist in der Regel wesentlich weniger problematisch als die Realität, die Sie sich erschaffen, indem Sie die Dinge benennen und in einen bestimmten Kontext setzen.
Auch eine Empfindung können Sie umwandeln – jetzt!
Inzwischen vermittle ich in meinen Seminaren den Teilnehmern die Fähigkeit, körperliche Empfindungen und Gefühle umzuwandeln, indem man sie mit Gewahrsein betrachtet. Wenn Sie möchten, können Sie es gleich einmal selbst probieren. Beginnen Sie mit einer Empfindung, die Sie in Ihrem Körper wahrnehmen. Richten Sie sanft und beständig Ihre Aufmerksamkeit darauf und entspannen Sie sich gleichzeitig. Beobachten Sie, wie Ihr Verstand das Gefühl definieren möchte – welche Worte Sie verwenden, um es sich selbst zu beschreiben. Lassen Sie die Worte einfach vorbeiziehen und versuchen Sie, die tatsächliche Empfindung wahrzunehmen.
Achten Sie vor allem auf die Momente, in denen Ihr Ego Sie denken lässt, dass Sie diese Empfindung schon einmal gespürt hätten. Auf diese Weise übernimmt es nämlich die Kontrolle und hält Ihr Denken in der Vergangenheit fest. Nehmen Sie also einfach die Annahme „Ich kenne dieses Gefühl“ als eine reine Annahme wahr und stellen Sie sich vor, Sie spürten diese Empfindung zum ersten Mal. Betrachten Sie sie wie ein Naturforscher im tropischen Regenwald, der eine Blume entdeckt, die er noch nie zuvor gesehen hat. Er untersucht sie sehr sorgfältig, kann ihr aber noch keinen Namen geben. Stattdessen betrachtet er einfach ihre ganz einzigartigen Eigenschaften: die Farbe, die Anordnung der Blütenblätter, die Anzahl der Verzweigungen, die vom Stängel abgehen, und so weiter. Sehen Sie sich ihre Empfindung auf die gleiche Weise an. Seien Sie aufmerksam und offen und beobachten Sie einfach, was passiert. Ändert sich die Empfindung? Bemerken Sie irgendeine Veränderung in Ihrem Gesamtzustand?
Natürlich ist es schwierig, sich gut zu fühlen, wenn Sie unter chronischen Schmerzen leiden. Gleichzeitig gilt jedoch, dass Schmerzen nicht nur einen physischen Ursprung haben. Sie werden durch Ihren Bewusstseinszustand unterstützt und intensiviert und dieser wiederum hängt von Ihren Gedanken ab. Wenn Sie präsenter sind, ändert sich die Art, wie Sie körperliche Schmerzen erleben – in der Regel nehmen sie ab. Das Gegenteil trifft übrigens ebenfalls zu: Je mehr Sie mit Ihren Gedanken in die Vergangenheit oder die Zukunft abdriften, umso wahrscheinlicher wird sich Ihr Gefühl des Leidens verstärken.
Ihr Körper verfügt über eine hohe natürliche Intelligenz und tut sein Bestes, um Sie so gut wie möglich wieder gesund zu machen. Zunächst jedoch müssen Sie präsent sein und sich von den Geschichten frei machen, die das Ego Ihnen erzählt. Wenn es um Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden geht, dann wissen Sie eins mit Sicherheit nicht, nämlich, wie ihr gegenwärtiger Gesundheitszustand aussehen würde, wenn Sie sich nicht fortwährend durch Ihre Gedanken vom Hier und Jetzt abschneiden würden.
Ich möchte hier keineswegs sagen, dass es nicht ratsam wäre, den Grund für ihre Krankheit zu erfahren, wenn Ihnen das Handlungsmöglichkeiten erschließt, mit denen Sie Ihre Gesundheit wiedergewinnen können. Abraten möchte ich allerdings vom Suchen nach Antworten in einer Art und Weise, die Ihre Gedanken in der Vergangenheit festhält oder sie allein auf die Zukunft richtet. Es ist nicht hilfreich, über das nachzudenken, was war, wenn das nur zu Groll und Abwehr gegenüber Ihren gegenwärtigen Umständen führt. Der einzige Zeitpunkt, zu dem Sie die Fähigkeit haben, neue Entscheidungen zu treffen, und die Kraft, höheres Wohlbefinden zu erzielen, ist der gegenwärtige.
Wenn Sie einmal innehalten und die Dinge von diesem Standpunkt aus betrachten, können Sie dann erkennen, wie Ihre derzeitige „Strategie“ für Gesundung Ihnen Stress in Form von Druck, Sorgen oder Ängsten bereitet? Oder sind Sie bereits entspannt präsent und entdecken die größere Lebendigkeit, die Sie im Hier und Jetzt immer erwartet?
Ungewissheit über die Zukunft ist einer der am meisten belastenden Zustände, speziell dann, wenn Sie krank sind. Es ist ganz natürlich, wissen zu wollen, was man als Nächstes tun soll. Sie möchten einen Plan haben und wissen, in welche Richtung es geht. Aber nachdem Sie sich für Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden eine Strategie zurechtgelegt haben, haben Sie erst die halbe Arbeit getan. Natürlich ist es nicht verkehrt, eine Strategie zu haben, aber Sie müssen sich auch auf Präsenz im Jetzt einlassen, um von seinem lebendigen Strom genährt zu werden.
Wenn Sie nicht in der Gegenwart verankert sind (und somit auch nicht in Ihrem natürlichen Zustand der Ganzheit), dann besteht der angespannteste und anstrengendste Teil des Weges zur Heilung häufig darin, nach Zeichen der Besserung Ausschau zu halten und abzuwarten, was die neuesten Untersuchungen ergeben. Egal, ob die erwarteten Untersuchungsergebnisse Ihre eigenen sind oder die Ihres Kindes oder eines anderen Ihnen nahe stehenden Menschen – es ist in jedem Fall verständlich, dass sie Ihnen nicht gleichgültig sind. Aber bis Sie die Ergebnisse in Händen halten, werden Ihr Energiefeld und Ihr Gemütszustand wesentlich offener sein und Sie können sich selbst und andere wesentlich besser unterstützen, wenn Sie einfach in der Gegenwart leben.
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