Diese mangelnde Aufnahmewilligkeit zog unweigerlich einen sich weiter verstärkenden Flüchtlingsdruck auf Palästina nach sich. Die exponierte Stellung des Mandatsgebiets führte zu der im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und danach während des Krieges, der ja auch in Nordafrika stattfand, immer klareren Absicht Großbritanniens, die Konflikte mit den arabischen Anrainer-Staaten nicht weiter zu schüren. Das „White Paper“ von 1939 schränkte beispielweise die jüdische Einwanderung gerade in der Phase extrem ein, als Tausende Juden aus Deutschland und Österreich noch hätten gerettet werden können.
Auch als Deutschland 1941 keine Auswanderung mehr zuließ, sondern die Juden in Ghettos zusammenpferchte und den Massenmord begann, wandelte sich die britische Position nur wenig. Der von Deutschland ins Gespräch gebrachte Austausch, der den Anlass für die Einrichtung des „Aufenthaltslagers“ Bergen-Belsen gegeben hatte, blieb trotz der geringen Zahlen für London heikel. Nur wenige Gruppen unter den von Nazi-Deutschland angebotenen „Austauschjuden“ wurden akzeptiert. Am besten geeignet war eine vorhandene palästinensische Staatsangehörigkeit, denn das führte rechtlich zu keiner zusätzlichen Einwanderung nach Palästina. Bekannte Anhänger der zionistischen Bewegung waren nicht erwünscht. Auf wiederholtes Drängen der zionistischen Jewish Agency wurden schließlich aber auch Personen als austauschfähig akzeptiert, die Angehörige in Palästina hatten, insbesondere Eltern von dort lebenden Kindern.7
Das traf auf Änne und Hermann Gröschler zu, lebte doch ihr Sohn Walter seit 1935 in Palästina. Vielleicht spielten auch seine Armeezugehörigkeit und eine Bürgschaft von Dr. Fritz Steinfeld, der seine Internistenpraxis im Zentrum Jerusalems betrieb, eine Rolle dabei, dass das Ehepaar Gröschler nicht nur auf eine der zahlreichen Palästina-Listen kam, sondern Änne schließlich tatsächlich zu den 222 „chosen people“8 gehörte. Aus ihrem Bericht erfahren wir, dass sich das Ehepaar von Westerbork aus, als noch eingeschränkt Postverkehr möglich war, an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in der Schweiz gewandt hat. Über diesen Kanal mag überhaupt die Information bei den Verwandten in Palästina angekommen sein, dass das Ehepaar noch lebte und wo es sich aufhielt, so dass Eingaben gemacht werden konnten. Die konkreten Kommunikations- und Entscheidungswege jedoch werden sich vermutlich nicht mehr aufklären lassen.
Die Zahl der Ausgetauschten blieb deshalb so gering, weil das Prinzip des Austauschverhältnisses von eins gegen eins galt. Die britische Mandatsmacht hatte Schwierigkeiten, eine größere Anzahl akzeptierter Personen zu rekrutieren, weil das Potential durch zwei vorhergehende Austausche von in Palästina internierten deutschen Staatsbürgern gegen in Deutschland trotz gültiger Palästina-Papiere festgehaltene Juden bereits weitgehend erschöpft war. 500 männliche Deutsche aus Palästina im wehrfähigen Alter waren zudem inzwischen im fernen Australien interniert. Nicht jeder „Volksdeutsche“ wollte „heim ins Reich“ und man konnte 1944 schon ahnen, wie der Krieg ausgehen würde. Schließlich verfügten die Briten doch über eine genügende Anzahl. Es waren überwiegend Angehörige der Templer-Sekte aus ursprünglich Baden-Württemberg, die seit 1868 in Palästina siedelte, um in Jerusalem das „Volk Gottes“ zu versammeln, sowie internierte Deutsche aus der britischen Kolonie Süd-Afrika. Der Austausch der „Volksdeutschen“ gegen die Juden fand am 6. Juli 1944 in Istanbul statt. Während die einen den Orient-Express in das untergehende Reich bestiegen, fuhren die anderen mit der Bagdad-Bahn in die Freiheit.
Mehr als 1.000 weitere Zertifikatsinhaber blieben in Bergen-Belsen zurück, viele von ihnen kamen in den folgenden zehn Monaten bis zur Befreiung des Lagers durch die britische Armee im April 1945 und auch noch in der Zeit danach wegen der erlittenen gesundheitlichen Schäden ums Leben. Warum gerade diese 222 Menschen auf der Austauschliste standen, ist seit langem Gegenstand von Überlegungen. Gültig ist immer noch die Vermutung von Simon Heinrich Hermann bereits aus dem Jahre 1944: „So dürfte die definitive Transportliste die nach langen Verhandlungen festgestellte Komponente verschiedener Interessenrichtungen darstellen.“9 Wie hoch der Anteil von Glück oder Zufall am Überleben von Änne Gröschler war, lässt sich nur erahnen, zumal es schon unwahrscheinlich war, den Westerborker Deportationen in die Vernichtung entgangen zu sein.
Editorische Bemerkungen
Das mit „Jerusalem, im Herbst 1946“ auf der letzten Seite datierte Typoskript – 39 engzeilige Seiten im britischen Foolscap-Format10 – entstand offenbar schon relativ kurz nach der Ankunft in Jerusalem, vermutlich im Juli 1944. In der Zeit der Erzählung ist der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet, die Befreiung von Groningen im April 1945 und das Überleben der Verwandten sind Änne Gröschler nicht bekannt. Wie der Text verdeutlicht, ist sie seit ihrer Ankunft in Palästina erkrankt und in stationärer Behandlung. Klare Symptome der Krankheit werden nicht genannt. Wie ihre Tochter Käthe Löwenberg-Gröschler 1984 dem Herausgeber mitteilte, habe sie einen Zusammenbruch erlitten und deshalb auf Anraten der Ärzte den Bericht niedergeschrieben. Den habe sie in späteren Jahren immer „Aus dieser schweren Zeit“ genannt. Vielleicht erklärt sich das falsche Datum aus der später erfolgten Übertragung eines handschriftlichen Urtextes in das Typoskript.
Der Text wurde in Rechtschreibung und Zeichensetzung korrigiert und im Satzbau an wenigen Stellen angepasst. Linguistische Untersuchungen, z. B. über eventuelle Reflexe des Jiddischen, sollten auf das originale Typoskript zurückgreifen. Die Übersetzung hält sich so nah wie möglich an den deutschen Wortlaut und an den spezifischen Schreibstil von Änne Gröschler, selbst wenn sie zwischen verschiedenen Zeitformen wechselt.
1984 besuchten von den Nationalsozialisten vertriebene Juden aus Jever ihren alten Wohnort. Sie folgten der Einladung einer Projektgruppe von Schülern und Lehrern des örtlichen Gymnasiums. Während der Besuchswoche überließen Käthe und Alfred Löwenberg-Gröschler ihm das Typoskript zur Erstellung von Fotokopien und zur weiteren Verwendung, eine Kopie wurde dem Niedersächsischen Landesarchiv in Oldenburg zur Verfügung gestellt. Der Herausgeber veröffentlichte 1988 Auszüge des Berichts in einem Aufsatz über den Novemberpogrom 1938 in Jever. Werner Vahlenkamp edierte in demselben Jahr die Jever betreffenden Passagen, das sind etwa zehn Prozent des Gesamttextes.
2014 mietete der Zweckverband Schlossmuseum Jever das Erdgeschoss des 1954 auf dem Grundstück der abgetragenen Synagogenruine erbauten Gebäudes an, um hier ein „Zentrum für die Geschichte der Juden und der Zeitgeschichte der Region“ aufzubauen. Die Einrichtung sollte nach Hermann und Julius Gröschler heißen, den letzten beiden Vorstehern der Synagogengemeinde Jever. Zum 70. Jahrestag des „Transports 222“ fand hier im Juli 2014 ein Vortrag über Änne Gröschler und ihre Rettung statt, zu dem drei ihrer Nachfahren aus England und den Niederlanden nach Jever kamen. Bei dieser Gelegenheit entstand die Idee der vollständigen Veröffentlichung von „Aus dieser schweren Zeit.“ Die Nachfahren von Hermann und Änne Gröschler, Julius und Hedwig Gröschler und der Familie Hoffmann-Levy, die an der Namensgebungsfeier für das GröschlerHaus Ende September 2014 teilnahmen, bekräftigten das Projekt. Anita Engler-Haas, Erica Groschler, Heidi Groschler, Roslyn und Walter S. Groschler, David Haas, Bob Löwenberg, Hans Löwenberg, Jacqui Lynskey-Haas, Andrea Shalinsky, Lauren Sokolski, Michael Stuart und andere, die im Ausland leben, haben den Herausgeber ermutigt, auch eine englische Version zu erstellen. Leider konnten Roslyn und Hans die Veröffentlichung der Erinnerungen 2017 nicht mehr erleben.
Eine Papierkopie des Typoskripts befindet sich im Niedersächsischen Landesarchiv Oldenburg (Best. 297 D Nr. 155). Eine digitale Kopie stellt das GröschlerHaus