… Ja, so sah er aus. Er war ja auch, wie Ignatius, ein Baske.
Mit der Einberufung der 31. und 32. Generalkongregation in den 1970er-Jahren hat er den Orden in die Gegenwart geführt. Er hat mit der Feststellung, dass sich der Einsatz für den Glauben und der Einsatz für die Gerechtigkeit nicht voneinander trennen lassen, eine Grundrichtung vorgegeben, die bis heute gültig ist. Sie ist danach ergänzt worden durch wichtige Dinge, aber nicht überholt worden. Er hat den Generationenwechsel in der Leitung des Ordens vollzogen. Es ist ihm tatsächlich gelungen, den Jesuitenorden neu aufzustellen.
Albus
Dafür hat er auch einiges eingesteckt.
Mertes
Dafür hat er unglaublich viel Prügel bezogen. Er ist denunziert worden. Noch bis vor Kurzem wurden manche der damaligen Denunzianten aus dem Jesuitenorden mit Ehrentiteln vom Vatikan belobigt. Deswegen ist für uns Jesuiten Papst Franziskus solch eine Erleichterung. Es hat viel für uns bedeutet, dass er das Grab von Pedro Arrupe besuchte. Da hat er ein Schweigen gebrochen.
Albus
Ich habe dann mit Arrupe das Interview in Puebla gemacht. Er gab es mir unter der Bedingung, dass die Ausstrahlung erst nach dem Ende der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz stattfinden dürfe, weil er Angst vor dem Kardinal von Medellín in Kolumbien hatte, der den Kurs des Ordens hart bekämpfte. Ich habe gespürt: Er stand stark unter Druck. Er hat gelitten.
Mertes
Er hat einen langen Leidensweg durchschreiten müssen, ist in schwerwiegende Loyalitätskonflikte gestürzt worden. Er hat den Orden inspiriert und ihm gleichzeitig Zeit gelassen für Prozesse. Wenn ihm bestimmte Kräfte in der Kurie sagten: „Schluss damit!“ und wollten, dass er durchgreift, hat er eben nicht Schluss damit gemacht. Er hat die Dinge sich entwickeln lassen. Das ist ihm als Schwäche ausgelegt worden. Aber im Grunde genommen war es seine Stärke. Zum Beispiel die Auseinandersetzung in und um die kirchlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Deswegen ist es schon bedeutsam, wenn der jetzige Papst, der aus Lateinamerika stammt und der das alles miterlebt und dabei auch seine eigene Rolle gespielt hat, heute zum Grab von Pedro Arrupe geht.
Nicht zu vergessen in der Ära Arrupe: Die Neuentdeckung der Ignatianischen Exerzitien*. Bis dahin wurden sie ja meist als Vortragsexerzitien präsentiert. Durch seine Inspiration, zurück zu den Quellen zu gehen, wurde neu entdeckt, dass die Exerzitien Einzelexerzitien sind. Das war eine fundamentale Veränderung: Die Umsetzung des Prinzips, dass Gott zum einzelnen Menschen spricht und dass es die Aufgabe des Exerzitienbegleiters ist, dem Exerzitanten zu helfen, diese Stimme in seinem eigenen Innern zu erkennen, statt ihn zu belehren. Er hat die Bedeutung des Einzelnen neu gesehen, und dass man den Jesuitenorden nicht einfach nach dem militärischen Prinzip begreifen kann. Man fing in seiner Zeit an, wieder über Tabuthemen zu sprechen. In der Ausbildung wurden psychologische Kategorien ernst genommen und bei der Förderung persönlicher Reifung auch rezipiert.
Für mich ist und bleibt Arrupe eine der ganz großen Gestalten des Ordens. Er ist eine Person, auf die ich mich beziehe.
Albus
Letzte Frage dazu: Sie befinden sich in einem kirchenfernen Milieu, in einer völlig durchsäkularisierten Gesellschaft. Wie würden Sie es heute einem schmackhaft machen, in den Jesuitenorden einzutreten?
Mertes
Dem sage ich: Wenn dich die Frage nach Gott wirklich interessiert und bewegt, wenn du einen Weg gehen willst, auf dem du eine Antwort findest, die – bei aller Freude an Bildung – mehr ist als eine bloß intellektuelle Antwort, dann ist der Weg des Jesuitenordens ein Weg, den du gehen kannst, den du versuchen kannst.
Die Eliten des Evangeliums sind gefährlich
Das Evangelium verschließt sich nicht dem Elitedenken: „Wer der Erste sein will, der soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Markus 9,35)
Der Wunsch, Erster sein zu wollen, wird im Evangelium erfüllt, allerdings durch Zuweisung des letzten Platzes. Da, wo es keine Positionen, keine öffentliche Anerkennung und keine Macht gibt, da hält sich die Elite des Evangeliums auf. Der letzte Platz ist wirklich ein erster Platz. Das Paradox lässt sich nicht dadurch auflösen, dass man Letzter werden will, um Erster zu sein. Es geht ums Dienen. Wer dienen will, um zu herrschen, dient nicht. Andersherum formuliert: Wer aus eigenem Willen zur Elite des Evangeliums gehören will, gehört nicht dazu. Der letzte Platz wird zugewiesen – der Platz bei den Armen, bei den Kranken, bei den Ausgeschlossenen, der Platz am Kreuz.
Wer sich auf den letzten Platz einlässt, ist gefährlich – ohne es zu wollen. Von dieser Erfahrung spricht das Evangelium an vielen Stellen …
Die Elitekritik des Außenseiters Jesus bringt die Hohenpriester in Rage: Sie beschließen, Jesus tu töten. Petrus und Paulus machen ähnliche Erfahrungen. Sie gehen zu den Römern und Griechen und machen sich dadurch Feinde bei den eigenen Leuten (Apostelgeschichte 10,1ff/Galater 2,12). Friedrich Spee* wird zur letzten Station der gequälten Frauen geschickt, bevor sie als Hexen verbrannt werden; was er dort erkennt, macht ihn gefährlich. Oscar Romero* wird den Mächtigen in El Salvador gefährlich, weil er – durch seinen Freund Rutilio Grande geführt – nicht mehr in der Welt der Bücher Theologie liest, sondern in der Welt der Armen.
Man kann sagen: Wer im Sinne des Evangeliums einen letzten Platz besetzt, erfährt eine besondere Form von Prominenz: Er oder sie wird „gefährlich“, erregt Angst und Schrecken, wird zum Tagesthema. Solche Gefährlichkeit gefährdet zugleich. Jon Sobrino* hat das in seinem Bericht über die Ermordung der sechs Mitbrüder und der beiden Frauen durch die Mordkommandos der salvadorianischen „Eliten“ einmal so benannt: „Sterben muss, wer an Götzen rührt.“ Wer den letzten Platz besetzt, rührt an Götzen: an die festen Selbstbilder, die Besserwisserei der Klugen, die Binnensolidarität der Stände und Seilschaften, die Lebenslügen der Gerechten, die Fassadenwelt der Schönen und Reichen, die Herzensunreinheit der rituell Reinen.
Dass dies so ist, hängt mit dem Perspektivwechsel zusammen: Solange einer auf dem ersten Platz ist und in diesem Sinne zu den Reichen gehört, sieht er die Armen nicht, die auf dem letzten Platz sind; und sieht vor allem die Ungerechtigkeit nicht, dass nämlich ihre Armut mit dem eigenen Reichtum zu tun hat. Doch der Wechsel der Perspektive verändert das Selbstbild. Und dies wiederum provoziert diejenigen, die am Selbstbild festhalten und nicht umdenken wollen. Wer die Armen, die Ausgestoßenen, die Außenseiter sichtbar macht, muss sterben.
…
Bleibt nur noch, die Geister richtig zu unterscheiden: Ich kann aus der Tatsache, dass ich Gegner habe, die sich über mich ärgern und mich für gefährlich halten, noch nicht schließen, dass ich im Sinne des Evangeliums auf dem richtigen Weg bin. Es gibt tatsächlich gefährliche Menschen, denen man das Handwerk legen muss; es gibt immer Anlass zur Selbstkritik und damit Anlass zur Offenheit für Kritik durch andere. Eliten im Sinne des Evangeliums erkennt man daran, dass sie der Selbstgerechtigkeit anderer nicht mit der eigenen Selbstgerechtigkeit begegnen. Aber es ist andererseits recht unwahrscheinlich, dass der schmerzliche Weg Jesu und vieler, die ihm auf dem letzten oder vorletzten Platz – rechts und links neben Jesus – nachgefolgt sind, denen erspart bleibt, die das Evangelium ernst nehmen.
Ich habe Altes hinter mir gelassen
Zu meinem eigenen Weg will ich noch etwas sagen. Ich war immer in Bewegung, manchmal mehr als mir lieb war. Die Bewegung hatte und hat immer etwas zu tun mit sehr schmerzlichen Erfahrungen. Es waren Schmerzen, die mich nach vorne gebracht haben. Ich sage das nicht, um zu jammern, im Gegenteil: Ich bin reich beschenkt mit Freude. Aber beim Vorangehen spielten die schmerzlichen Erfahrungen eben auch eine wichtige Rolle.
Und wo stehe ich heute? – Heute bin ich – stärker als früher – ein normaler Christ. Ich bin nicht mehr so sehr „Priester“ im Sinne von Inhaber einer Position. Alles, was mit Hierarchie zusammenhängt, ist mir nicht mehr so wichtig. Ich fühle zu vielen Menschen in der Kirche eine größere Nähe, denen das Evangelium wichtig, aber manches