Modrich und Guddi untersuchten die Leiche der Sängerin nur kurz. Zum einen schien Guddi der Ohnmacht nah zu sein, zum anderen kam ihr beim Betrachten der komplett zerschossenen Halsschlagader lediglich die Erkenntnis, dass sie nicht gelitten haben konnte. „Gibt es irgendwelche Zeugenaussagen, die uns weiterbringen könnten?“, rief Peer in den Raum hinein. Leitner und Kruschek saßen schon länger wie bestellt und nicht abgeholt vor der Garderobe herum. Vermutlich hatten sie bereits Feierabend und sehnten ihre Ablösung herbei. Darauf würden sie jetzt allerdings noch etwas warten müssen. „Wir haben etliche Fans befragt“, warf Leitner ein, „die meisten von ihnen waren so hysterisch, dass wir keine brauchbaren Aussagen bekommen konnten. Bei anderen hatten wir das Gefühl, dass sie sich nur wichtig machen wollten. Einmal in der Öffentlichkeit stehen, kennt man ja. Allerdings …“ „Allerdings was? Och Kollegen, jetzt lasst euch nicht alles aus der Nase ziehen!“ Guddi war äußerst ungehalten. Der Anblick von Joe Sandersons Leiche hatte sie in einen anderen Aggregatzustand versetzt. Gudrun Faltermeyer war nun gasförmig, jeder noch so kleine Funken könnte sie zur Explosion bringen. Modrich versuchte sich als Mediator: „Wir wissen alle, dass der Mord an einer solch prominenten Persönlichkeit in Windeseile die Boulevardpresse auf den Plan ruft. Wir müssen daher gründlich und schnell sein. Also bitte: Haben wir irgendetwas Brauchbares?“ Leitner sah Kruschek, der neben ihm auf einem Stuhl saß, vielsagend an. Kruschek verlagerte seinen Sitzschwerpunkt und ließ dabei fast unmerklich einen fahren. Aber eben nur fast. Guddi war außer sich und starrte Kruschek an, als wollte sie ihn töten. Wenn Modrich nicht in unmittelbarer Nähe gewesen wäre, hätte sie Kruschek vermutlich die Augen ausgekratzt oder entmannt – oder beides. „Das kann jetzt nicht ihr werter Ernst sein, Polizeihauptmeister Kruschek!“ Modrich war nun auch kurz davor zu explodieren. Kruschek war sein Fauxpas ganz offenbar peinlich, so rot war er das letzte Mal gewesen, als seine Frau ihn beim Masturbieren erwischt hatte. „Es tut mir leid“, brabbelte er los, „wir haben vorne im Pförtnerhäuschen tatsächlich eine Zeugin, die eventuell eine brauchbare Aussage machen kann. Zumindest hat sie uns in einer ersten kurzen Vernehmung gesagt, dass sie den Täter gesehen haben will. Das Beste wird sein, wenn wir sie jetzt noch mal befragen. Was meinen Sie? Ach ja, und brauchen Sie dabei mich und den Kollegen Leitner? Wenn nicht, würde ich ihn gerne in den Feierabend schicken.“ Guddi schüttelte den Kopf.
Die Person, die da im Pförtnerhäuschen auf einem Stuhl saß, war völlig aufgewühlt. Sie kaute an den Nägeln ihrer linken Hand, während sie im Sekundentakt tiefe Züge aus einer filterlosen Zigarette nahm. Als sie Peer und Guddi sah, hatte sie gerade einen besonders tiefen Zug genommen und bekam nun einen geradezu epischen Hustenanfall. Die Zigarette lag glimmend neben ihr auf dem Boden, während sie scheinbar kurz davor stand, sich übergeben zu müssen. Peer beugte sich über sie und redete beruhigend auf sie ein. Es war mehr ein Brummeln als etwas wohl Artikuliertes, was Guddi einen mehr als ratlosen Gesichtsausdruck bescherte. Als habe er ihr etwas Furchteinflößendes erzählt, schnellte die Frau plötzlich nach oben und knallte mit ihrem Hinterkopf gegen Peers Unterkiefer. Es knackte leise, ungefähr so, als habe jemand ein Ei aufgeschlagen. Während Peer laut aufschrie und sich das Kinn hielt, schien die Frau keinerlei Schmerzen zu spüren, obwohl sie eine immens blutende Platzwunde am Hinterkopf hatte. Kruschek und Guddi näherten sich vorsichtig ihrem Kollegen, der beide Hände vors Gesicht hielt und leise vor sich hin winselte. „Peer, alles okay? Komm, lass doch bitte mal sehen.“ Guddi wollte Peers linke Hand vorsichtig zu sich ziehen, damit sie einen Blick auf sein lädiertes Kinn erhaschen konnte. Peer jedoch stieß sie rüde zurück und murmelte etwas Unverständliches in sich hinein.
„Mein Schwager hat ’ne riesige Hasenscharte. Wenn der redet, klingt er genauso wie …“ Guddi fuhr herum und gab Kruschek mit einem wilden Blick zu verstehen, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für lausige Vergleiche war. Die Zeugin war in der Zwischenzeit von den herbeigerufenen Sanitätern am Hinterkopf provisorisch zusammengetackert worden. „Sie müssen damit auf jeden Fall noch ins Krankenhaus, Ihre Wunde muss genäht werden“, ermahnte sie der Sani, woraufhin sie sich wieder setzte, ihre nächste Kippe ansteckte und apathisch in die Gegend starrte. Peer nuschelte erneut etwas vor sich hin. „Jetzt lassen Sie mal sehen“, sagte der Sanitäter zu Peer. Dieser wiederholte das soeben Genuschelte, nur dreimal so laut. Dabei spie er blutiges Sputum, was Kruschek angeekelt zur Kenntnis nahm. „Ich glaube, er will, dass wir die Lady hier weiter vernehmen und ihre persönlichen Daten aufnehmen.“ „Das habe ich auch so verstanden, Kruschek. Einigen wir uns aber darauf, dass die ‚Lady‘ unsere wichtigste Zeugin ist und ich mir wünschen würde, dass Sie die Dame auch entsprechend behandeln. Ist das klar?“ Peer liebte Guddi in solchen Momenten und versuchte zu lächeln, wobei ihm Blut aus dem Mund rann. Es war wie in einem Horrorfilm. Er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Unterkiefer. Dieser wackelte hin und her, war monströs geschwollen und entstellte Peers Gesicht aufs Übelste. „Wow“, war dann auch der erste Kommentar des Sanitäters, als Peer langsam die Hände senkte. „Das sieht mir nach einem sauberen Bruch aus. Würde vorschlagen, wir bringen Sie direkt ins Krankenhaus. Damit ist nicht zu spaßen. Am besten fahren Sie mit der Zeugin, der KTW ist bereits auf dem Weg.“ Peer schüttelte widerwillig den Kopf. „Isnichsoschimm“ entfleuchte ihm, was Guddi mit einem Schmunzeln kommentierte. „Bringen Sie ihn bitte nach vorne“, sagte sie zum Sanitäter, „ich fürchte, wir können die Vernehmung besser ohne ihn fortsetzen. Wir sorgen dann dafür, dass die Zeugin später ins Krankenhaus gebracht wird. Ich nehme an, Sie bringen meinen Kollegen ins Prosperhospital?“ „Ja, Unfallchirurgie, um es ganz genau zu sagen. Bitte warten Sie nicht allzu lange. Ich habe die Wunde zwar desinfiziert, aber bei der Größe des Cuts muss man vorsichtig sein. Eventuell hat sie auch eine Gehirnerschütterung davongetragen. Bitte lassen Sie die Vernehmung also nicht länger als eine halbe Stunde dauern.“ Guddi nickte und klopfte ihrem geschundenen Kollegen zum Abschied jovial auf die Schulter. „Bis gleich, Peer. Halt die Ohren steif. Und denk dran: Nicht so viel reden – ist ’n bisschen ekelig, was da grad so alles aus deinem Mund herausläuft!“
8
Kruschek hatte Guddi einen Kaffee gebracht. Es würde eine lange Nacht werden, darüber waren sie sich, ohne viele Worte zu verlieren, einig. Die Zeugin schwieg immer noch beharrlich. Fast eine Stunde war vergangen, seitdem die Sanitäter Peer mit seinem lädierten Kiefer weggebracht hatten. Seither schien es so, als sei die Zeugin in eine Art Trance gefallen. Fast regungslos saß sie auf dem Plastikstuhl im Büro des Pförtners, wiegte ihren Kopf kontinuierlich hin und her und starrte mit offenem Mund den Linoleumboden an. Die Neonröhren an der Decke des Büros summten monoton. Guddi nahm an, dass der Zusammenprall mit Peers Eisenschädel die Zeugin benommen gemacht hatte und es eine Weile dauern würde, bis sie mit der Vernehmung würde fortfahren können. Nun aber verlor sie langsam die Geduld. Sie hatte ihr etwas zu trinken, einen Müsliriegel und ein Kühlpäckchen gebracht, nichts davon hatte sie angerührt. Guddi hatte leise und bedächtig auf sie eingeredet. Sie solle sich erst einmal entspannen, die Schwellung am Kopf mit Eis kühlen und ihr dann signalisieren, wenn Guddi mit der Befragung fortfahren könnte. Nichts. Keine Reaktion. Zumindest ihre Identität konnte Kruschek klären. Die Dame hieß Stefanie Mellinger, war 28 Jahre alt und seit drei Jahren in Wuppertal-Oberbarmen gemeldet. Keinerlei Einträge im zentralen Polizeiregister. Es war