I. Theorie: Der Hintergrund
Ich möchte Ihnen im ersten Teil des Buches den theoretischen Hintergrund zur Herzintelligenz vorstellen, bevor wir uns dann im zweiten Teil mit den Techniken selbst und ihrer praktischen Anwendung beschäftigen.
Im ersten Teil geht es darum, was Stress überhaupt ist und wie er entsteht – wir alle kennen das Gefühl von Stress, beschäftigen uns im Allgemeinen aber nicht näher damit, weil es unangenehm ist. Dabei lohnt es sich, den Stress-Mechanismus, seine Auslöser und vor allem seine Folgen für unseren Organismus besser kennen zu lernen. Denn je besser wir etwas verstehen, desto einfacher und sinnvoller können wir damit umgehen.
Und wir werden uns auch ein wirkungsvolles Gegenmittel zu Stress ansehen – nämlich unsere Herzintelligenz.
A. Zwei Rückkopplungsmechanismen
Es gibt zwei Rückkopplungsmechanismen oder Endlosschleifen, die jeden Tag viele Male in uns ablaufen. Diese Endlosschleifen sind automatische Programme, die, einmal gestartet, sich immer wieder selbst verstärken. Wir werden uns die beiden Mechanismen zuerst in Hinblick auf ihren Ablauf ansehen und uns dann mit den einzelnen Stationen näher beschäftigen. Je besser Sie Ihre eigene Reaktion verstehen, desto schneller und effektiver können Sie eingreifen. Sehen wir uns zuerst den – vielen Menschen vertrauteren – Stress-Rückkopplungsmechanismus an. Stress bedeutet, dass uns irgendetwas überfordert, ärgert oder nicht mit unseren Erwartungen übereinstimmt. Es fühlt sich so an, als kämen diese Stressauslöser fast immer von außen, d. h. die uns umgebenden Menschen und Ereignisse in unserem Leben scheinen unseren Stress auszulösen. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, entsteht der meiste Stress aber in Wirklichkeit nicht durch Ereignisse, sondern durch unsere Reaktion darauf.
Die gleiche Situation, egal ob Fallschirmspringen oder das Kennenlernen neuer Menschen auf einer Veranstaltung, kann für den einen mit Freude, für den anderen mit hochgradigem Stress verbunden sein. Natürlich gibt es Situationen im Leben, die bei jedem Menschen Stress auslösen und sehr belastend sind, aber der weitaus häufigere Stress entsteht aus unseren sehr subjektiven und konditionierten Reaktionen auf Alltagssituationen.
Diese Kombination aus inneren und äußeren Faktoren löst dann eine Kaskade negativer Gedanken und Gefühle aus, die im Sprachgebrauch der Herzintelligenz „Minus-Gefühle“ heißen („Minus“ deshalb, weil sie den Organismus psychisch, aber auch physiologisch Energie kosten). Das führt zu einer Inkohärenz der verschiedenen Körpersysteme wie dem Kerz-Kreislauf-System, dem Immun- und dem Hormonsystem. Inkohärenz bedeutet, dass unsere verschiedenen Systeme nicht koordiniert arbeiten, sondern jedes in seinem eigenen Rhythmus tickt. Das ist ein bisschen so, als würden zehn Menschen in zehn verschiedenen Richtungen gleichzeitig an Seilen ziehen, um einen Baumstamm zu bewegen. Und es ist ein Teufelskreis: Stress macht die Kohärenz zunichte, und Inkohärenz erzeugt weiteren Stress.
Chronischer Stress – also eine permanente Überforderung von außen, aber auch eine innerliche Grundstimmung aus Angst, Sorgen, Groll, Ärger oder Feindseligkeit – ist nicht nur im Moment selbst unangenehm oder gar eine vorübergehende Stimmung. Er verändert uns psychisch und körperlich und macht uns auf Dauer krank.
Es gibt aber genauso auch einen positiven Rückkopplungsmechanismus: Positive Gefühle wie Liebe, Anteilnahme, Mitgefühl und Freude (die sogenannten „Plus-Gefühle“) führen zu einer erhöhten Kohärenz im Organismus. Alle Systeme arbeiten harmonisch und effektiv zusammen und die Folge davon ist nicht nur eine verbesserte Gesundheit und ein vermehrtes Wohlbefinden, sondern auch eine viel höhere Leistungsfähigkeit. Diesen Zustand der Kohärenz nennen die Forscher um Doc Childre „Herzintelligenz“.
Auch dieser Rückkopplungsmechanismus verstärkt sich selbst, indem positive Gefühle und Haltungen zu mehr Kohärenz führen, und mehr Kohärenz wiederum zu mehr positiven Gefühlen. Wir können in diesem Zustand auf weitaus mehr Ressourcen zugreifen als im Zustand der Inkohärenz, und wir fühlen uns wesentlich besser. Diesen Zustand der Kohärenz können wir selbst bewusst und aktiv herstellen, indem wir unser Bewusstsein „vom Kopf auf das Herz umschalten“.
B. Was ist Stress und wie entsteht er?
Sehen wir uns nun die einzelnen Stationen unserer beiden Rückkopplungsmechanismen genauer an. Dafür stellen wir zuerst die Frage, was genau Stress eigentlich ist und wie er entsteht. Und welche äußeren, aber auch inneren Faktoren dazu beitragen, dass wir uns gestresst und angespannt fühlen.
Stress und seine Auslöser
Das Wort „Stress“ stammt eigentlich aus der Physik und bezeichnet dort den physikalischen Druck, der auf ein Material, speziell Metall, oder auf einen Gegenstand ausgeübt wird und dort eine Verformung oder Spannung hervorruft.
In den 1940er-Jahren übertrug der aus Österreich stammende, kanadische Mediziner Hans Selye den Begriff auf den Menschen. Seiner Auffassung nach war Stress die Reaktion des Körpers auf jegliche Herausforderung zur Veränderung. Selve war auch einer der Ersten, der nachweisen konnte, dass anhaltender Stress starke Veränderungen in Geweben hervorruft und damit den Körper schädigt.
Einer allgemeineren Definition zufolge ist Stress die körperliche und verstandesmäßige Reaktion auf jeglichen Druck, der das normale Gleichgewicht stört. Stress ist also nicht mehr das, was von außen kommt, sondern die eigene Reaktion darauf. Und auch wenn das vielleicht wie Haarspalterei klingt, so ist es doch ein ganz entscheidender Unterschied und auch eine gute Nachricht: Wenn unsere Lebenserfahrung und Lebensqualität eine Kombination aus inneren und äußeren Faktoren ist, dann haben wir tatsächlich die Wahl: Wir können der Welt entweder weiterhin die Schuld an unserem Stress geben – oder aber erkennen, welch entscheidende Rolle wir dabei selbst spielen und können so wieder die Verantwortung für unsere Reaktion übernehmen. Wir können bewusst unser emotionales „Klima“ verändern und anders auf die gleichen Ereignisse unseres Lebens reagieren. Das Ziel der hier vorgestellten Übungen ist deshalb die Etablierung von dauerhafter innerer Harmonie und Stärke, selbst wenn wir weiterhin äußerem Stress ausgesetzt sind.
Was genau sind nun diese äußeren und inneren Faktoren, die Stress in uns auslösen? Äußere Faktoren sind unter anderem die zunehmende Geschwindigkeit und Informationsfülle, der wir täglich ausgesetzt sind, sowie der stetige Wandel, kombiniert mit einer großen Unsicherheit in Bezug auf die Wirtschaftslage, den Arbeitsmarkt und globale Themen wie die Klimaveränderung. Was für viele Menschen noch dazu kommt, ist der Leistungs- und Zeitdruck und das dadurch oft entstehende Gefühl einer permanenten Überforderung. Individuelle Stressfaktoren können Beziehungsprobleme sein, Krankheiten von uns selbst oder von Angehörigen, Schwierigkeiten bei der Arbeit oder ähnliche Probleme.
Innere Faktoren, die Stress in uns auslösen, sind unter anderem andauernde Wut oder Groll, Ärger, Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Schuldgefühle, Selbstabwertung, Anspannung, überzogene Erwartungen an uns selbst und andere sowie Unzufriedenheit.
Was genau geschieht bei Stress im Körper?
Wenn wir unter Stress geraten, dann laufen im Körper mehr als 1400 physikalische und chemische Reaktionen ab, um diese Nachricht zu verbreiten und darauf zu reagieren. Die beiden wichtigsten Systeme sind dabei unser vegetatives Nervensystem, das wir später noch näher kennen lernen werden, und unser Hormonsystem.
Bei Stress wird das Hormon Adrenalin in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Es sorgt dafür, dass sich Herzfrequenz und Blutdruck erhöhen, dass unsere Muskeln sich anspannen und die Atmung sich beschleunigt. Das soll uns für eine Kampf- oder Fluchtsituation vorbereiten, was aus der Sicht der Evolution auch lange Zeit sinnvoll war, bei einer Auseinandersetzung im Büro oder an der Supermarktkasse aber heute keine effektive