Alles schick in Kreuzberg. Klaus Bittermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Bittermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862871117
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      Der Schluck Wasser in der Kurve sagt: »Ob ich jetrunken habe? Na sicha hab ick jetrunken. Seit zwee Wochen schon. Is doch scheißkalt draußen.«

      Der Arzt nickt. Kälte ist ein guter Grund zu trinken.

      Im Zimmer nebenan schreit ein Mann: »Das Arschloch hat mich angespuckt. Der hat Aids. Sie müssen mir sofort Blut abnehmen. Und dem Arschloch auch.«

      »Wir können dem anderen kein Blut abnehmen«, sagt eine Arztstimme.

      »Wieso nicht? Hat doch Aids!«

      Die Arztstimme wieder: »Wir können nicht einfach jemandem Blut abnehmen, wir leben in einem Rechtsstaat.«

      »Scheiß Rechtsstaat«, sagt die aufgebrachte Stimme. »Dem muss Blut abgenommen werden. Hat mich angespuckt.«

      Der Arzt sagt nichts mehr. Die aufgebrachte Stimme aber ramentert weiter. Nach einer Viertelstunde verliert der Arzt die Contenance. Er sagt: »Jetzt halten Sie endlich die Klappe. Ich musste gerade jemanden einen Finger amputieren. Der ist viel schlimmer dran als Sie.«

      Besser als das Urban war da nur die Notaufnahme in Harlem. Da wurden Leute mit Schuss­wunden eingeliefert. Ein amputierter Finger war da eine Lappalie.

      Versuchte Vergewaltigung

      Vor dem »Pavillon Prisma« an der Kottbusser Brücke esse ich eine Teigtasche mit Käse und Ei und lese zum Nachtisch ein Manuskript, aber ich komme über die ersten zwei Seiten nicht hinaus, weil sich ganz in der Nähe eine dicke Frau mit stufig geschnittenen blondierten Strähnen niederlässt. Naja, deswegen eigentlich weniger, aber sie hat einen dünnen glatzköpfigen Mann im Schlepptau. Er ist Pokerspieler. Ich dachte, die würden schweigen und ein Pokerface aufsetzen, aber der redet ununterbrochen auf sie ein.

      »... sacht die, dass se in nem Bio-Laden arbeitet. Da musste ick wieder lachen. In nem Bio-Laden! Wenn se in ner Bäckerei gearbeitet hätte, hätt ick ja normal jefunden, aber Bio-Laden! Sacht die zu mir, wir könnt’n ja zusamm mit nem Taxi heimfahren, aber Geld hätt se keens. Sach ick, is jut, wa, aber ick loof ma lieber. Hab’s ja ooch nicht so dicke. Ick also los. Zwee Ecken weiter kommt ‘n Auto neben mir zu stehen. Janz normales Auto. Ick denk mir erstma nix dabei. Spring zwee Zivis raus, ziehn ihre Knarren, stelln mir an die Wand, Beine breit, wa, Handschellen, det janze Programm. Geben se durch ‘n Funk: Wir ham ihn. ›Was ’n jetzt los?‹, frag ick. Sacht der eene zu mir: ›Versuchte Vergewaltigung.‹ Sach ich: ›Wat? Ick soll der Frau an die Wäsche jegangen sein? Das is ja wohl der Witz des Monats.‹ Kommt ‘n Bullenwagen mit der Frau anjerauscht. ›Ja, das isser‹, sacht die. ›Wenn ick dir hätte verjewaltigen wollen, hätt ick dir ja wohl nicht meene Adresse gegeben.‹ Weeßte ja, Steglitzer Damm neben Drospa. ›Und außerdem könnt ihr doch selber gucken, is doch alles uff’m Video vonner U-Bahn drauf. Seien se mir nicht böse, wa, aber Sie sind nicht nach meem Jeschmack.‹ Sacht die wieder: ›Aber der roocht Haschisch.‹ Ich sach: ›Jetzt hör doch ma uff.‹ Die Bullen kieken sie an, kieken mich an. Sacht der eine: ›Na, dann is ja alles Bes­tens, dann könn’ Se jetzt ja nach Hause gehen.‹ Sach ich: ›Moment ma! Sie fahrn mich jetzt mal schön nach Hause. Ick bin jetzt fix und alle nach der Uffregung.‹ Sacht die Alte: ›Och, da fahr ick doch mit.‹ Denk ick, jetzt werd ick die Alte schon wieder nicht los. Die Bullen fahrn mich also nach Hause, halten an, sacht die Alte: ›Och, da steig ick doch auch gleich mit aus.‹ Ne, denk ick, det darf ja jetzt wohl nicht wahr sein. Uff der Straße sacht se: ›Jetzt bleim Se doch ma stehn. Ick möchte mir nämlich janz herzlich bei Ihn entschuldijen. Ick hab zu Hause noch ne Flasche Wein. Wolln se nicht mitkomm?‹ ›Nene‹, sach ich, ›muss morgen früh raus.‹ Zwee Stunden später klingelt’s an der Tür, steht se da mit ner Torte und nem Blumenstrauß. Platzt mir der Kragen. Sach ick: ›Jetzt is aber mal jut, ick komm mit dicken und fetten Menschen nicht klar, die stinken mir zu sehr.‹«

      Die dicke Frau mit den blondierten Strähnen zieht an einer Zigarette und nickt verständnisvoll.

      Ein bisschen mehr Distanz

      Oh Gott, ich bin alleinerziehend! Für einen Tag. Nur?, werden einige müde lächeln, aber auch ein Tag muss erstmal rumgebracht werden. Fup will mit seinem »Morad« raus, das heißt übersetzt Motorrad, ist aber nur ein Laufrad. Bitte schön. Raus ist immer gut. Nur mit der Richtungsangabe gibt es in der Regel kleine Differenzen, denn wenn ich sage: »Da lang«, dann sagt Fup grundsätzlich: »Nein, da lang.« Mein »da lang« und sein »da lang« hören sich zwar gleich an, bezeichnen aber unterschiedliche Richtungen.

      Da ich nichts vorhabe, sage ich nicht »da lang«, sondern: »Du bist der Bestimmer. Wohin willst du?« Fup hat da eine ganz bestimmte Vorstellung. Ich bin gespannt, wohin er mich führt. Er führt mich stracks zum Kottbusser Tor. Einmal rund um den Platz, bis er den Aufgang zur Hochbahn entdeckt. Er will U-Bahn fahren. Nein, U-Bahn ist nicht drin. Na gut, dann weigert er sich eben, überhaupt weiterzugehen.

      Also stehen wir vor der Ampel. Die Leute um uns herum gehen bei grün über die Straße. Bei rot natürlich auch. Wir aber bleiben stehen wie zwei kleine Felsen in der Menschenbrandung. Dann fährt Fup unter der Hochbahn entlang, wo das Pflaster flächendeckend mit Taubenscheiße bedeckt ist. Er fährt weiter auf die Verkehrsinsel, inspiziert einen Sandhaufen und radelt dann weiter zu Kaiser’s durch die offene Tür zum Tresen der Backwarenabteilung, wo er sich von seinem Erziehungsbeauftragten eine Salzstange kaufen lässt.

      Vor dem Eingang von Kaiser’s bleibt er stehen und isst. Direkt vor den Alkis. Zwei schreien sich an. Der eine sieht sehr derangiert aus, mit Bart, Augen auf Halbmast und einer verranzten Jacke. Der andere hat zu große Jeans an, und sein Gesicht befindet sich sehr nah vor dem Gesicht des anderen.

      »Schon mal was von Distanz gehört? Ein bisschen mehr Distanz! Das ist ja wohl nicht zuviel verlangt«, sagt der bärtige Mann sehr sehr laut.

      Der andere schreit zurück: »Scheiß Distanz, du weißt doch gar nicht, was das ist!«

      Ein dritter stürzt herbei: »Jetzt seid doch mal nicht so laut.«

      Fup guckt und mümmelt an seiner Salzstange. Der Schlichter gesellt sich zu einem Schwarzen mit Bierdose. Dann kommt er zurück und sagt: »Das Arschloch will mir sein Handy nicht geben. Ick muss ne ganz wichtige SMS verschicken. Is echt wichtig.« Und zu dem Schwarzen, der Biernachschub holt: »Fick doch deine Weiber.«

      Fup guckt, isst und steht den Leuten im Weg. Ich auch. Wieder schreien sich die ersten beiden Alkis an. Es geht um das beschissene Leben im Allgemeinen. Der Schwarze ist wieder zurück. Der eine Schreihals schleicht sich von hinten an ihn ran und bewegt sein Becken vor und zurück.

      Fup hat genug. Er fährt wieder nach Hause. Mit einer Hand. In der anderen hält er immer noch seine Salzstange.

      Trotzki im gentrifizierten Bezirk

      »Nein, da lang«, sagt Fup, und dagegen ist nichts zu machen. Dann eben da lang. Er läuft mit seinem Laufrad zur Admiralbrücke zu einer bestimmten Ecke. Dort ist ein Tapeziertisch aufgestellt, der mit einem roten Tuch geschmückt ist. Darauf steht schwarz »RSO«. Man sieht sofort, dass es sich um was Revolutionäres handelt, wegen der fetten Futuraschrift.

      Hinter dem Tisch sitzen auf der Brückenmauer sechs junge Frauen unter zwanzig. Ein paar stehen daneben. Sie tragen, was junge Frauen in diesem Alter so tragen, und da es ein warmer Tag ist, nicht übermäßig viel. Die Garderobe ist bunt. Einige haben eine Sonnenbrille auf. Sie unterhalten sich. Niemand nimmt von mir Notiz. Oder von Fup.

      Auf dem Tisch liegen Flugblätter mit einem roten Stern, auf denen »Gemeinsam kämpfen« steht. Es geht über die Berlinwahl 2011. 2011? Ist das nicht schon ein bisschen her? Hier werden also ein Jahr alte Flugblätter angeboten. Und Broschüren, die wahrscheinlich noch älter sind und »Kapitalistisches Elend und sozialistische Antworten« und »Grundsätze der RSO« heißen. Aber was heißt eigentlich RSO? Ich rate: »Revolutionäre Sozialistische Organisation«. Treffer. Na gut, war jetzt auch nicht wirklich schwer.

      Die RSO steht, wie ich einem Faltblatt entnehmen kann, »in der Tradition der um Leo Trotzki formierten ›Linken Opposition‹