3.2 Der Schützling: Korruption und Selbstbereicherung unter Hans Loritz
Dass ein Konzentrationslager, ein Ort des Terrors, gleichzeitig auch ein Ort der Kreativität sein konnte, ist schwer vorstellbar. War es doch das Ziel der SS, die Häftlinge im Lageralltag durch Gewalt und Erniedrigung ihrer Menschenwürde zu berauben. „Der Mikrokosmus des Konzentrationslagers war in jeder Hinsicht der Gegenentwurf zur Welt der Kultur und der Humanität“, schreibt die Kunstwissenschaftlerin Stefanie Endlich. „Für Kunst gab es eigentlich weder Raum noch Zeit, noch materielle Möglichkeiten.“246 Dennoch entstand hier, im denkbar kunstfeindlichsten Umfeld, eine erstaunliche künstlerische Vielfalt. Einerseits gab es die Kunst, die im Verborgenen unter großer Gefahr für die Künstler und Mitgefangenen geschaffen oder praktiziert wurde, also Literatur, Gedichte, Musik, Theater- und Kabarettstücke und bildliche Kunst. Andererseits wurde bestimmte Kunst auch vom SS-Personal geduldet, darunter Lesungen, Musik- und Theaterabende, bei denen nicht selten SS-Leute teilnahmen. Oft wurden diese geduldeten Kunstformen zur propagandistischen Außendarstellung der KZ missbraucht, vor allem im Vorzeigelager Theresienstadt. Nicht zuletzt gab es die Kunst im offiziellen Auftrag der SS. In allen großen KZ gab es dafür eigens eingerichtete Werkstätten, Arbeitskommandos und Lagerkapellen, in denen die SS die professionellen Fähigkeiten der Häftlinge für ihre eigenen Zwecke missbrauchte.247 Der Kommandant von Sachsenhausen trieb all das auf die Spitze.
Hans Loritz im Rang eines SS-Sturmbannführers, 1932/1933. Unter Loritz' Kommandantur und Schutz absolviert Adolf Haas 1940 im KZ Sachsenhausen seine Ausbildung zum Schutzhaftlagerführer.
Hans Loritz war eine beinahe ebenso prägende Person für die Lager-SS wie Theodor Eicke. Er war ein „alter Kämpfer“ der NS-Bewegung und stieg seit 1934, gefördert von Eicke, schnell im KZ-System auf, erst als Kommandant von Esterwegen, ab 1936 von Dachau und schließlich von Sachsenhausen, seit Ende 1939 kommissarisch und ab März 1940 regulär. Wo er hinkam, verschärfte sich der Terror. Die Häftlinge, die er mitunter selbst prügelte, nannten ihn „Nero“. Mit wachsendem Einfluss betrieb er seine eigene Netzwerkpolitik, scharte über die Jahre loyale und gleichgesinnte SS-Offiziere um sich und holte sie wenn möglich nach, wenn er das Konzentrationslager wechselte.248 In Sachsenhausen nahm er Adolf Haas in den Kreis seiner Schützlinge auf. Während Haas‘ dreimonatiger Ausbildung unterschrieb Loritz dessen Beurteilung, die vor übertriebenem Lob geradezu überquoll: Seine persönliche Haltung sei „einwandfrei gut“, er selbst „charakterfest“, „diensteifrig“ und „geistig rege“, sein Wissen sogar „über Durchschnitt“. Generell waren ihm „besondere Mängel und Schwächen“ nicht bekannt. Den Ausbildern der SS-Führerschule in Dachau 1937 widersprach Loritz, indem er Haas‘ Fertigkeiten im Ordnungs- und Geländedienst, im Sport und bei weltanschaulichen Vorträgen durchweg für „gut“ befand. „Er verspricht ein guter II. Schutzhaftlagerführer zu werden.“ Eine höhere Position in der Kommandantur stellte er Haas nicht in Aussicht, traute ihm aber zu, „Führer einer Komp.[anie]“ zu werden, also bei der Waffen-SS an der Front zu dienen.249
Wer damals im SS-Personalhauptamt oder der IKL nur einen kurzen Blick in Haas‘ Personalakte warf, musste schnell erkennen, dass Loritz maßlos übertrieb. Aber sein Wort zählte. Anders als Rudolf Höß, dem Loritz misstraute,250 gefiel ihm offensichtlich der „Draufgänger“, auch vom Charakter her. Tatsächlich hatten sie einige Gemeinsamkeiten: Sie waren ungefähr gleich alt, von Beruf Bäcker, hatten einige Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht und später keine Skrupel, ihre Machtposition bei der SS zu missbrauchen. Adolf Haas hatte das bereits in Hachenburg bewiesen. Womöglich hatte er vor dem Kommandanten geprahlt, wie er den jüdischen Kaufmann Karl Grünebaum 1933 um 2700 Reichsmark erpresst hatte und mit nur ein paar Tagen Untersuchungshaft davongekommen war. So etwas war genau nach Loritz‘ Geschmack. Wie sich noch zeigen sollte, schaute sich der Zweite Schutzhaftlagerführer von seinem Kommandanten höchstpersönlich ab, wie er seine Unverfrorenheit auch im Lageralltag zu seinem eigenen Vorteil einsetzen konnte. Denn neben Gewalt gab es noch eine andere Art, mit Häftlingen umzugehen.
In Sachsenhausen hatte es bereits vor Kriegsbeginn einen riesigen Werkhof gegeben, auf dem die Häftlinge gezwungen wurden, vor allem für die SS-eigenen Deutschen Ausrüstungswerke GmbH Möbel, Spielzeug, Schuhe und andere handwerkliche Gegenstände herzustellen. Als Loritz ankam, ließ er die Werkstätten weiter ausbauen. Bald schon nannte man sie „Loritz-Werke“ – denn an den Waren bereicherten sich vor allem der Kommandant selbst und seine SS-Führer.251 Bereits in Dachau hatte es Loritz als sein Vorrecht angesehen, Häftlinge als Zwangsarbeiter für seine Unterhaltung und seinen privaten Reichtum auszubeuten. Sein Vorgänger und Mentor Theodor Eicke war ihm dabei ein Vorbild. Ohne Genehmigung ließ Loritz Dachauer Häftlinge einen „Wildpark“ bauen, in dem er und höhere SS-Offiziere gern jagen gingen. Er schickte sie auch zur Zwangsarbeit 175 Kilometer weiter nach Österreich in das Nebenlager St. Gilgen. Hier, nicht weit von Salzburg, hatte er 1938 mehrere Grundstücke erworben und darauf das erste Außenkommando von Dachau in Salzburg eingerichtet, allerdings nicht offiziell. Das privat organisierte Lager diente einzig dazu, ihm eine luxuriöse Privatvilla direkt am schönen Wolfgangsee aufzubauen. Als Loritz das Konzentrationslager Sachsenhausen übernahm, schickte er von dort – immer noch illegal – Baumaterial und Häftlinge nach St. Gilgen, darunter vor allem handwerklich begabte Zeugen Jehovas. Andere hohe SS-Offiziere nahmen sich ein Beispiel, erwarben in der Nachbarschaft Grundstücke und liehen sich von Loritz Zwangsarbeiter aus.252 Bis Loritz‘ Familie die fertige St. Gilgener Villa bezog, wohnten sie in der SS-Siedlung Sachsenhausen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konzentrationslager. Auch hier waren sie den Anblick von Häftlingen gewohnt, die der Familienvater vom Oranienburger Bahnhof zu Fuß zum Lager treiben und dort quälen ließ. Er und seine Frau versüßten sich jedoch den Alltag mit allerlei Luxusgütern und Kunstgegenständen, die sie sich von den Häftlingen herstellen ließen. Ein Sachsenhausen-Überlebender erinnerte sich später:
„Der damalige Lagerkommandant, SS-Oberführer Loritz, hatte, wie alle korrupten SS-Führer, die Angewohnheit einen Stab von 300 bis 500 Häftlinge nur für seine Belange arbeiten zu lassen. Diese Häftlinge wurden für Tischlerarbeiten, Kunstschmiede-Keramikarbeiten für den privaten Bedarf des SS-Oberführers Loritz und seiner Clique verwendet.“253
Die Liste ist lang: In den „Loritz-Werken“ schufteten Gürtler, Sattler, Schuster und Schneider. Künstler und Handwerker malten rund 60 Ölgemälde, webten Teppiche, fertigten Lampenschirme aus Leder, Wäschekörbe, Sessel, Tische, Briefbeschwerer mit Helmverzierung aus Silber, kunstvolle Zahnstocher, Messer und Dolche mit Granatsplitterhandgriffen, ein Dutzend Geldbeutel und Brieftaschen, ein geschnitztes Schachspiel, Fotopostkarten mit dem Motiv der St. Gilgener Villa – und sogar eine Segelyacht, mehrere kleine Boote und einen „Jagdwagen“. Wie schon in Dachau zweckentfremdete Loritz das Baumaterial für einen Luftschutzkeller, um daraus einen „Germanischen Bierkeller“ mit Kegelbahn und Schießstand bauen zu lassen. Er beutete seine Häftlinge nicht nur aus, sondern erdreistete sich sogar, auf dem KZ-Gelände einen eigenen Geflügelhof und eine Schweinemast zu unterhalten – in Sichtweite der hungernden Häftlinge.254 Für diese bedeuteten die Werkstätten allerdings eine Überlebenschance, vorausgesetzt, ihre Fertigkeiten waren wertvoll genug für den gierigen Kommandanten. Seine „Eigenart“ nutzten die Häftlinge, die den Arbeitsdienst leiteten, zum gegenseitigen Schutz, indem „immer mehr und mehr Häftlinge