Münster - Jede Woche hat ihre Geschichten. Carsten Krystofiak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Krystofiak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895669
Скачать книгу
zögerte Oberstadtdirektor Hermann Fechtrup die Bauabnahme, mit der die Gewährleistungsfrist beginnt, über ein Jahr hinaus. Die Senioren in ihren feuchten Wohnungen wurden hingehalten; der Fall offiziell vertuscht. Doch in dem Altenheim wohnte ein pensionierter Baurat, der alle Mängel dokumentierte. Er spielte die Akten einem SPD-Ratsherrn zu. Ein Gutachten wurde erstellt. Ergebnis: Sanierungskosten von 6 Millionen DM – 40 % der Bausumme! Die CDU hielt das Gutachten unter Verschluss, niemand sollte davon erfahren. Selbst vor dem Stadtrat wurde es geheim gehalten. Das Gerichtsverfahren wurde überraschend eingestellt. Stattdessen einigte sich die Stadt plötzlich mit den Baufirmen auf lächerliche 274.000! Dieser Vergleich hätte im Rat abgestimmt werden müssen. Aber Fechtrup erklärte, mehr sei eben nicht zu holen gewesen. Als die SPD Akteneinsicht verlangte, waren Teile daraus entfernt worden. Schließlich konnte die CDU eine Untersuchung nicht mehr verhindern. Aber die Kommission führte die CDU selbst! Alles verlief im Sand. »DIE ZEIT« machte 1988 den Fall publik: »Normalerweise funktioniert das Geben und Nehmen in Münster diskret. Die Herrschaft teilen sich Wirtschaft, Verwaltung und CDU.« Der Generationswechsel im Rat läutete jedoch zu dieser Zeit das Ende der Gutsherrenpolitik in Münster ein. Seitdem muss auch die CDU wieder um Münsters Wähler werben …

image

      Für seine Rolle im Pfusch-Skandal um das feuchte Klarastift kam Oberstadtdirektor Fechtrup nicht mal vors Karnevalsgericht …

      In dieser Woche im Jahr 1848 …

      … war auch in Münster »Märzrevolution«.

      Anfang März 1848 wagten liberale Demokraten die Revolution gegen Fürsten & Feudalismus. In Berlin verteidigten Studenten unter den Farben der Uniformen aus den Befreiungskriegen – Schwarz-Rot-Gold – Straßenbarrikaden gegen schießendes Militär. Auch in Münster kam es zu Steinwürfen auf preußische Soldaten; dem Oberbürgermeister wurden die Scheiben eingeworfen. Um weiteres Chaos zu verhindern, stellte man eine revolutionäre Bürgerwehr auf. Trotz 1.650 Mann Stärke war ihr kämpferischer Wert eher mager: Der Lambertipfarrer spottete: »Ein drolliges Corps! Sie beziehen Posten und schlafen ein!« Der Westfälische Merkur (heute WN) bemühte sich, ein düsteres Bild von Anarchie auszumalen. Das wirkte: Die liberalen Bürger bekamen Angst vor ihrer eigenen Courage und dienten sich schnell wieder der alten Obrigkeit an. Bei der Wahl zur ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche stimmten die Münsteraner dann auch tatsächlich für ihren Bischof als Delegierten! Durch überzogene Repressionen bekamen die Demokraten dann aber doch noch Aufwind: Nach der Verhaftung von 14 Bürgern, kam es zu einer Massenschlägerei zwischen Münsteranern und Militär. Aber zu spät: Fürst Metternichs Reaktion rollte die Revolution zurück. Auch in Münster hieß das bis auf weiteres: Dreiklassenwahlrecht, verschärfte Pressezensur und Aus für die demokratische Meinungsfreiheit.

image

      »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten«, rappte Preußens König. Gegen diese nicht so leicht, aber gegen Münsters Biedermeier-Bürgerwehr allemal!

      In dieser Woche im Jahr 1993 …

      … verlor Münster seine geliebte Postleitzahl.

      Bis Ende des Zweiten Weltkrieges war Münsters Postleitzahl 21a. Dann wurde das System in den drei Westzonen neu organisiert. 1962 wurden schließlich vierstellige Postleitzahlen eingeführt. Nur große Städte bekamen eine zweistellige Zahl plus zwei Nullen. Münster erhielt die 4400, verkürzt 44. Darauf waren die Münsteraner unendlich stolz, denn es war Balsam für ihren Provinzkomplex, somit offiziell in die Reihe großer Städte wie Dortmund, Bremen oder der damaligen Bundeshauptstadt Bonn zu gehören. Vierundvierzig Münster war eine Marke mit großer Beliebtheit und die Bürger hielten sie in Ehren. Doch dann brauten sich dunkle Wolken über Münsters Großstadtbewusstsein zusammen: In die Freude über die Wiedervereinigung mischte sich bald Unheil. Eine bekloppte Reklamefigur namens »Rolf« warb plötzlich für neue, fünfstellige Postleitzahlen. Grund: In der ehemaligen DDR gab es identische PLZ-Bezirke; ausgerechnet das berüchtigte Industrie-Dreckloch Bitterfeld trug »drüben« ebenfalls die 4400. Weil man kein Provisorium wollte (wie die vorgeschlagene Beibehaltung der Zahlen mit dem Zusatz auf W bzw. O für West und Ost), wurden die Zahlen wieder neu gemischt. Mit den fünfstelligen Postleitzahlen gab es erstmals verschiedene PLZ in einer Stadt.

      Die Münsteraner traf es dreifach hart: Erstens verloren sie ihre großstädtische Zweistelligkeit, zweitens mussten sie ihre teure 44 an Dortmund abtreten (was irgendwie wie eine Degradierung empfunden wurde), aber der Gipfel der Demütigung war, dass Münster ausgerechnet die 48 zugewiesen bekam – die ehemalige PLZ von Bielefeld!!

image

      Fehlte in keiner Werbung: Die Postleitzahl 4400 Münster – das klang nach Großstadt und Metropole; Balsam für den Provinzkomplex.

      In dieser Woche im Jahr 1983 …

      … sprach der BGH Ludwig Poullain frei.

      In den 1960ern kam Ludwig Poullain aus dem Bergischen Land nach Münster, wurde Generaldirektor der Westfälischen Landesbank und vereinigte sie mit der Rheinischen Provinzialbank zur WestLB. Zudem wurde er Präsident des Sparkassenverbandes. Der Neue heizte den gemütlichen Sparkassen-Onkels kräftig ein und machte die Provinzbank zu einem international erfolgreichen Unternehmen. Damit zog er sich zuhause den Hass von Gewerkschaftern und Lokalpolitikern zu, die sich beide in ihrer traditionellen Folklore gestört fühlten. Bei den Münsteranern war Poullain sowieso unten durch, seit er indirekt (als Geldgeber) an der Aufstellung der ersten modernen Skulptur im öffentlichen Raum »schuld« war und auch noch sein futuristisches Bankgebäude auf dem Boden des alten Zoos errichtete, den die Münsteraner so liebten. Aber Poullain war auch nicht feige vor mächtigeren Feinden als den Münsteranern: So geißelte er genüsslich in aller Öffentlichkeit die Geldpolitik der Landes- und Bundesregierung. NRWs Ministerpräsident (SPD) forderte ihn auf, das gefälligst sein zu lassen. Doch Poullain konterte, er lasse sich Kritik nicht verbieten. Darauf zog man eine Skandalaffäre um einen Beratervertrag Poullains auf, um ihn zum Rückzug zu zwingen. Poullain wurde zwar im März 1983 vom BGH freigesprochen, war bei der WestLB aber draußen. 2004 sollte er trotzdem eine Rede halten. Als klar wurde, dass diese eine Abrechnung werden würde, lud man ihn aus, aber die Rede erschien darauf in der FAZ, und ließ Banker und Politiker ziemlich alt aussehen. Das verzeihen sie ihm nie! Poullain lebt bis heute in Münster.

image

      Ludwig Poullain rechnete gnadenlos mit der Inkompetenz von Politikern und Funktionären ab – das wurde ihm zum Verhängnis …

      In dieser Woche im Jahr 1992 …

      … verklagte Steffi Stephan Jürgen Kehrer.

      Um Weihnachten 1991 veröffentlichte Jürgen Kehrer seinen zweiten Münster-Krimi »In alter Freundschaft«. Der Fiesling der Story ist ein ganz mieser Typ: Kehrer beschreibt ihn als münsterschen Discobesitzer, der gerne Stirnbänder trägt, früher mal Rockmusiker war und manchmal »einen alternden Rockopa« auf Tourneen begleitet. An der Steinfurter Straße (wo zu jener Zeit das Jovel war) betreibt der Krimi-Gangster einen Konzertladen »mit dem Charme eines Schwimmbades«. Zufall: Neben dem alten Jovel war das Spaßbad Germania-Therme. Jeder phantasiebegabte Münsteraner konnte in dieser Figur den realen Steffi Stephan erkennen. Das tat auch die Frau des damaligen Oberbürgermeisters Twenhöven, als sie das Buch las. Von seinem »Kumpel Twenny«, wie Stephan den OB zu nennen pflegte, wurde er auf die peinliche Ähnlichkeit aufmerksam gemacht. Weil es in dem Roman um üblen Kindesmissbrauch geht, war Stephan eine Entschuldigung Kehrers zu wenig: Er klagte auf Vertriebsverbot und 20.000 DM Schmerzensgeld. Münsters Landgericht hatte also die Frage zu klären, ob Kehrer nachweislich Stephan gemeint hatte. Das war gar nicht so einfach, denn die mutmaßlich wohlkalkulierten Anspielungen standen eher zwischen den Zeilen als schwarz auf weiß. Darum war es für Kehrer ein Leichtes, den Ärger Stephans ins Leere laufen zu lassen. Das Gericht