Trotz dieser unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Redakteuren, die oft mühseliger waren, als die Artikel zu schreiben, landete Eike Geisel mit einem seiner letzten Texte einen Coup, der im Leben eines freien Autors nicht sehr häufig vorkommt. Eike Geisel hatte das Buch »Auge um Auge. Opfer des Holocaust als Täter« von John Sack, eine Übersetzung aus dem Amerikanischen, in der Frankfurter Rundschau (die taz hatte den Artikel abgelehnt) als »Antisemitische Rohkost« vorgestellt. In der Februarausgabe von Konkret erschien zur gleichen Zeit unter dem Titel »Die Protokolle der Rächer von Zion oder die neuen ›Opfer der Opfer‹« eine ausführliche Fassung.
Noch bevor das Buch ausgeliefert wurde, zog der Piper Verlag es am 9. Februar 1995 zurück. Dieser nunmehr publik gemachte Skandal wurde sogar in der New York Times und der Herald Tribune registriert. In der folgenden ausgedehnten Kontroverse waren die meisten Journalisten trotz der primitiven antisemitischen Töne John Sacks dem Überbringer der schlechten Nachricht nicht sehr freundlich gesonnen, weil viele von ihnen der dünnen These von der Angleichung der Opfer des Nationalsozialismus an die Täter eine gewisse Plausibilität abgewinnen konnten.
Tagesspiegel, Welt, taz, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, ja sogar die Zeit, die den »Opfern der Opfer« nicht nur ein ganzes Dossier widmete, sondern auch einen Leserbrief John Sacks im redaktionellen Teil veröffentlichte, waren sich einig, dass ein tapferer und wegen seiner jüdischen Herkunft unverdächtiger Autor zwar etwas naiv, aber durchaus verdienstvoll das »Tabuthema Vertreibung« behandelt habe, dem man sich, wie es in der taz hieß, »unverkrampft« nähern wollte. Zu diesem Thema nämlich könne man sich »entweder überhaupt nicht, oder wenn, dann (nur) unter permanenter Hinzufügung, dass die Vertreibung letztendlich eine Folge des von Deutschen begangenen Weltkrieges, von Auschwitz und den deutschen Verbrechen sei« (Stefan Reinecke in der taz), äußern. Der Mühe der »permanenten Hinzufügung« wollte man sich nicht mehr unterziehen, man wollte reden dürfen wie ein Vertriebenenfunktionär, und insofern hat Eike Geisel diesen Journalisten zu ihrem coming out verholfen.
Auf ein nicht mehr realisiertes Projekt verweist der Artikel »Das Ende der Schonzeit« über jüdische Rächer nach 1945, eine Art Exposé für ein Buch, das bei Rowohlt Berlin erscheinen sollte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zunächst Interesse an einem Vorabdruck gezeigt, nahm dann aber doch lieber Abstand davon. Ein anderes Vorhaben, das nicht mehr mit Hilfe des Autors zustande kam, war ein dritter Band seiner Aufsätze, der dann 1998 unter dem Titel »Der Triumph des guten Willens« als seine nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurde.
Dieser dritte Essay-Band war nur einer der zahlreichen Pläne, die Eike Geisel immer gerne schmiedete und von denen er mit einer Begeisterung erzählte, die äußerst ansteckend war. Zuletzt bemühte er sich um einen Lehrauftrag in den Vereinigten Staaten, den er zum einen mit Archivforschungen für sein Buchprojekt über die jüdischen Rächer nutzen wollte, zum anderen hoffte er, mit der Ortsveränderung etwas Abstand von den immer unerträglicher und zäher werdenden Debatten in Deutschland zu gewinnen. Aber daraus wurde nichts mehr.
Es ist etwas einfach, darauf hinzuweisen, dass seinen Artikel heute aufgrund des weltweit grassierenden Antisemitismus und der Toten in Paris wieder große Aktualität zukommt, aber es ist nicht zu leugnen, dass es tatsächlich so ist, auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seit 1995 erheblich verändert haben. Aber gerade in einer Zeit, in der selbst das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin im Nahostkonflikt einen nachvollziehbaren Grund für die »generalisierte Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden« erkennt, wäre es spannend gewesen zu erfahren, wie Eike Geisel dagegen angeschrieben hätte, denn mit Sicherheit hätte ihn die Krankheit dieser Zeit keine Ruhe gelassen.
Im Sommer 1995 fiel Eike Geisel in ein Koma, aus dem er nicht wieder erwachte. Er starb am 6. August 1997. Er liegt auf dem Friedhof Stubenrauchstraße in Berlin-Friedenau in unmittelbarer Nähe von Marlene Dietrich, die er bewunderte und die bis über ihren Tod hinaus in Deutschland als Verräterin galt.
1998/2015
Das nationale Kulturgut
Guy Debord
Ob ihm der modernistische Monumentalbau der Bibliothèque Nationale de France (BnF) oder auch »Bibliotheque François Mitterand«, für das ein ganzes Viertel eingestampft wurde, immerhin eine Fläche von 60000 Quadratmetern, gefallen hätte, ist unwahrscheinlich, denn Debord hatte trotz avantgardistischer Vorstellungen von einem neuen Urbanismus und trotz seiner Sympathie für das »New Babylon«, das der holländische Maler Anton Nieuwenhuys Constant entworfen hatte, immer eine melancholische Ader für das alte Paris, einer Stadt, »die damals so schön war, dass viele Leute es vorzogen, dort lieber arm zu sein als irgendwo anders reich«. Aber das BnF hat 2009 das Archiv Debords für einen mehrstelligen Millionenbetrag gekauft, nachdem auch die Yale University Interesse gezeigt hatte. Die damalige Kulturministerin Christine Albanel erklärte auf Drängen des Bibliotheksdirektors Bruno Racine den Nachlass Debords zum nationalen Kulturgut, zum »tresor national«, womit Debord, wie die FAZ spöttelte, »unter kulturellen Heimatschutz gestellt« wurde.
Und das ist erstaunlich, denn noch niemals geschah das mit einem französischen Autor, dessen Tod erst 15 Jahre zurück lag, und noch erstaunlicher ist es, weil Debord vor nicht einmal 30 Jahren als Unruhestifter und Revolutionär galt und auch heute noch gilt, denn noch 2008 schrieb die Antiterroristische Einheit in einem Bericht über Julien Coupat, dem eine Sabotageaktion auf den SNFC vorgeworfen wurde, dass er aus »der situationistischen Schule« käme, die sich »den Kampf gegen die aktuellen Strukturen der Gesellschaft« auf die Fahnen geschrieben hätte. Von der französischen Presse wurde Debord 1984 sogar der Mittäterschaft am Mord seines Freundes und Verlegers Gerard Lebovici beschuldigt. Damals jedenfalls hat wahrscheinlich niemand daran gedacht, dass Debord einmal die Ehre widerfahren würde, vom Establishment zum französischen Nationalheiligen ernannt zu werden. Und Debord selbst hat Auszeichnungen und Preise von offizieller Seite strikt abgelehnt.
Aber in Frankreich hat man ein anderes Verhältnis zu seinen Dissidenten, da avancierte sogar der Staatsfeind Nr. 1 Jacques Mesrine zum Volkshelden, dessen Lebensgeschichte noch zu seinen Lebzeiten verfilmt werden sollte, worüber sich Godard und Belmondo dann allerdings zerstritten. Mesrines Autobiographie »L'Instinct de mort« (der deutsche Titel »Der Todestrieb« enthält eine völlig andere Konnotation) wiederum soll Debord geschrieben haben, der angeblich vor seinem Tod alle Hinweise auf seine Autorenschaft in seinem Nachlass tilgte, was aber relativ unwahrscheinlich ist, denn auch wenn Debord Mesrine zumindest vermittelt über dessen Tochter Sabrina kannte, die im Verlag Champ Libre arbeitete, in dem auch »L'Instinct de Mort« erschien, so beschäftigte sich Debord weniger mit der abenteuerlichen Karriere eines Kriminellen, als vielmehr mit Clausewitz, Hegel, Marx, Machiavelli, Gondi, Cervantes und anderen Klassikern, die auf seine Initiative in den siebziger Jahren in Frankreich neu übersetzt wurden.
Debords Ruhm begründete sich durch seine Schrift »Die Gesellschaft des Spektakels«, die 1967 erschien und in den folgenden turbulenten Jahren zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen in alle wichtigen Sprachen erlebte, ein Buch, von dem gern behauptet wurde, dass es das beste über die ein Jahr später stattfindenden Mai-68-Ereignisse gewesen sei. Jedenfalls beeinflusste dieses Buch eine ganze Generation, die von den Unruhen infiziert wurde, aber es ist keine Bewegungsliteratur, an der der Zahn der Zeit nagt und die nach wenigen Jahren auf merkwürdige Weise antiquiert wirkt, wie z.B. »Das Handbuch der Lebenskunst« von Raoul Vaneigem, der zusammen mit Debord einer der wichtigsten Protagonisten der Situationistischen Internationale war.
Debords