»Belfer nicht rum!«, krähte die Witwe Richtung Housemaid und wandte sich dann, weiterhin bemüht, kleine Brötchen zu backen, an den Freund und Helfer mit den nassen Füßen: »Es geht um keinen geringeren als besagten Marlowe, weil der nämlich auf diesem Bett …«
»Sag ich doch«, trotzte die Zimmerfrau.
»Also: Wo ist der Mann? Man führe ihn herbei!«, beschied, sich in seiner Amtsgewalt sonnend, der muskulöse Arm des Gesetzes. »Sofort und augenblicks.«
»Sag ich doch.«
»… weil der nämlich auf diesem Bett…«, warfen sich die alte Bull und ihr noch älteres Zimmermädchen jetzt in bemerkenswerter Einhelligkeit die Bälle zu.
»Eben. Bier- und Blutbad. Und den Herold des Bösen hab ich noch gesehn. Den Schnitter, wie er seine Sense abwischt und davonstiebt in die Regen der Nacht. Und seine schwarzen Kumpanen am langen Bändel hinterher.«
»Und hat dieser schneidige Schnitter auch einen Namen?«, darauf der Constable.
»Wird wohl, muss wohl«, orakelte die Elder Maid, »weiß ich nicht, mein Schnaps kam viel zu spät.«
Und jetzt presste sich die Bull’sche denn doch zwei Krokodilstränen ab und schluchzte was von wegen Marlowes Ableben in ihrem, »jawohl, in meinem« Gasthaus. Dass der große Dichter, ach was sage sie, der größte Dichter aller Zeiten in diesem Bett just dort oben seinen letzten Odem ausgehaucht habe, müsse man sich mal vorstellen, also das sei doch wahrhaftig eine große, eine außerordentliche Ehre.
Worauf ihre Bedienstete nicht ganz ohne makabren Eifer anfügte: »Erstochen mit seinem eigenen Dolch, der durch sein Auge bis ins Gehirn gedrungen ist. Geführt aber nicht von seiner Hand selbst, sondern … Wenn bloß nicht dieser verfluchte Bierfleck und das ganze Blutzeugs …«
»Jung an Jahren«, nahm Helen den Faden auf und versuchte, den Gesprächsverlauf wieder in zivilisierte Bahnen zu lenken, »blutjung und bildschön. Dramen in Verse gegossen von ewiger Schönheit und Wahrheit.«
Dahin, dahin.
Und die Housemaid schlug fahrig ein Kreuz in die Luft. »Rauf ins Reich Gottes, sag ich doch, und sitzet zur Rechten …«
»Meinetwegen«, unterbrach sie der Constable rüde, als fürchte er, dass sich ein ausladendes ›Ora pro nobis‹ anschließen könnte. »Aber wo indes ist die bleiche Leiche?»
»Sag ich doch«, antwortete die Maid so schnell, dass ihrer Chefin nur ein »Wenn wir das wüssten« blieb.
Das war der Moment, wo der Constable den Rücken durchdrückte und eingedenk des Gewichtes seines Amtes zwar, aber unverhohlen begeistert verkündete: »Womit denn der Kasus glücklich abgeschlossen wäre. Ohne Leiche keine Mordtat. – Und jetzt mein Frühstück, wenn ich bittschön bitten darf. Ich nehm ordentlich saure Buttermilch zum Porridge.«
8
Es mochten ein paar Tage ins Land gegangen sein. Weißer Tüll hatte sich in den steinalt knorrigen Wacholderbüschen verfangen und legte nasse Schals um die hochgeschossenen Grasbüschel. Alle Ungereimtheiten tauchten unter. Die weiße Gnade der schottischen Nebel. Die sich nachts in bleierne Trauer verwandelt.
Ich sagte ja bereits, dass manches von dem, was ich über Marlowes turbulente Geschichte weiß, auf nichts als nachträglicher Rekonstruktion, in alle möglichen und unmöglichen Himmelsrichtungen ausgreifender Recherche, bienenfleißigem Sammeln von wagen Hinweisen beruht, wenn nicht auf reinen Mutmaßungen. Je waghalsiger, desto weiter ich vom Ort des Geschehens entfernt war. Logisch. Nur bei ’n paar, muss ich zugeben, bei verdammt nicht vielen Begebenheiten kann ich aus eigener Anschauung beurteilen und zurechtrücken, was Ihre Berichterstatterin da so zusammengetragen hat. Aber Sie sagten ja, Sie wollten ja … also bitte, dann müssen Sie sich hier und da und dort mit Spekulationen meinerseits zufrieden geben. Der Wahrheit verpflichtet, selbstverständlich, dessen hab ich Sie ja bereits versichert: Verpflichtet der reinsten Wahrheit! Und bestem Wissen und … ja, auch ich, auch Dichter haben ein Gewissen. Wieso denn nicht!
Um also der Kennzeichnungspflicht Genüge zu tun: Auch die Ereignisse im fernen Schottland gehören in die Rubrik ›Mutmaβungen‹, die anzustellen ich mich gezwungen sehe, um die weit klaffenden Lücken der Überlieferung, soweit sie mir zugänglich war und ist, zu schließen. Kann ich nicht ändern, tut mir leid. Andere Möglichkeit wäre, na ja gut, Sie suchen sich einen anderen Zeugen. Oder Angeklagten, ja, okay, dann eben Angeklagten. Aber glauben Sie bloß nicht, irgendwer anders würde nach all der Zeit die vertrackten Geschehnisse klarkriegen und die, sagen wir: Reportage Ihrer freien Mitarbeiterin hier bewerten, ergänzen und richtigstellen können, ohne dass seine Fantasie nachhelfen müsste. Ich meine, warum interessieren Sie sich eigentlich für diese alten Geschichten? Und wer, verdammt noch mal, wer war das eigentlich, der da Anklage gegen mich erhoben hat? Welcher Vollidiot meinte, da mal wieder sein Mütchen kühlen zu … Na egal jetzt. Weiter im Text. Das Schloss selbst jedenfalls, in dessen Umfeld sich die Begebenheit zutrug, die Ihre Tippse – ja gut, Pardon, soll nicht wieder vorkommen –, die Ihre Chronistin jetzt offenbar ansteuert, ist, da muss ich ihr recht geben, alles andre als ein Luftschloss. Erbaut aus hartem Stein! Und keines von der Sorte, die damals schon dem Verfall preisgegeben waren; von ihren Bauherren unter Einsatz erklecklicher Sümmchen mit wenn auch schottisch bescheidenem Prunk ausstaffiert und auf den Rang einer, na ja, leidlichen Bedeutung gehievt, von nachfolgenden Generationen dann allerdings verwohnt und sträflich vernachlässigt. Dieses Castle hier litt an Sorgfalt seitens seiner Besitzer, oder besser: Besitzerin keinen Mangel. Im Gegenteil. Hier wusste jemand, dass er an diesem abgelegenen Fleckchen Erde ein raues zwar, aber nicht minder anheimelndes Paradies bewohnte.
Einzig die Wetterverhältnisse oben in den Highlands waren, sagen wir: gewöhnungsbedürftig. Eine Katastrophe, wenn ich ehrlich sein soll. Tage-, wochen, mitunter auch monatelang eine einzige Suppe! Schwaden undurchdringbarer Nebel strichen ums Gemäuer, gingen irgendwann dann in ein ebenso undurchdringbares Nieselregengewaber über. Wenn nicht Schneegriesel das Regiment übernahmen. Wetterarrangements, die, so unwirtlich sie mir und womöglich Ihnen erscheinen mögen, der Schlossherrin sehr zupasskamen. Um mit Elan ihrer Leidenschaft zu frönen, fühlte sie sich geradezu angewiesen auf eine solch eiserne Abschottung. Und noch das niederschmetterndste Nebelwatte-Dauerregengebräu ließ sie frohlocken. Bescherte es ihr doch erbauliche Stunden ungestörten Werkens und Wirkens. Autistisch, ohne sich vergraben zu müssen. Sie selbst und nichts als sie selbst: Brennpunkt und Fluchtpunkt in einem. Während draußen die Welt ihre weißgrauen oder wahlweise schwarzgrauen Vorhänge zuzog.
Jene Nacht war so undurchdringlich schwarz, wie der Tag undurchdringlich weiß gewesen war. Das Knallen der Peitsche kündete noch vor den polternden Rädern vom Herannahen der lang ersehnten Kutsche.
Was die Dame des Hauses, da können Sie Gift drauf nehmen, zehn Meilen gegen den Wind hörte. Wusste sie doch: Da war jemand an Bord, musste jemand an Bord sein, von dem sie sich endlich und endgültig die Erfüllung ihrer Obsession erhoffte. Im Sinne einer, sagen wir: Außendarstellung. Aber Genaues dazu später.
Walsingham wechselte ein weiteres Mal die übereinandergeschlagenen Beine, offensichtlich ärgerte ihn das Stroh, das an mehreren Stellen durchs rissige Leder stachelte. Er musterte den Mitreisenden, der neben ihm auf dem zerschlissenen Bankpolster hockte und hartnäckig schwieg und dessen Miene im schummrigen Licht der Kutsche nur schwerlich zu ergründen war. »Sollte dir die Reise über Gebühr Beschwernisse bereitet haben, so soll’s zu deinem Schaden nicht gewesen sein. Ihr Anblick, wenn du erst vor ihr stehst, wird dich entschädigen, das versichere ich dir.«
»Von Angesicht zu Angesicht. Ihr dürft Euch glücklich schätzen, überglücklich. Ich, wenn’s an mir wäre, würd’ sofort mit Euch tauschen«, begeisterte sich Frizer