»Tag, Frau Lochner. Tut mir leid, ich muss Sie noch einmal stören. Wir sind da leider nicht viel weiter gekommen.« Derintop hörte, wie der Mann weiter redete, während er ins Haus ging und die Tür hinter ihm zufiel. Derintop zuckte mit den Schultern, vergewisserte sich, dass die beiden nicht im Wohnzimmer Platz nahmen und er nicht durch die Terrassentür gesehen werden konnte, dann ging er gemächlich zurück über den Rasen und stieg über den Jägerzaun. Sein BMW stand direkt vor dem Wagen, der soeben gekommen war: ein dunkelgrüner Audi mit einer Polizeiplakette auf der Heckscheibe.
»Sie wissen also nicht, wohin Ihr Mann unterwegs war? Warum hat er nicht seinen Wagen genommen?« Kommissar Bärhalter war ein Mann von Mitte fünfzig, ergraute Schläfen, rotwangig von allmorgendlichen Rasuren. Er stand breit da in einem rotkarierten Baumwollhemd und einer beigen Cordhose, durchweg bieder, und verkörperte so Recht und Gesetz. Er verkörperte den Durchschnitt, der sich normal verhielt und niemals aneckte; der der unumstößlichen Meinung war, wenn man sich nichts zuschulden kommen ließ, könne einem auch niemand etwas anhaben. Ansonsten trete er auf den Plan. Nun starrte er unter buschigen Augenbrauen hervor auf die Frau, die unter ihm am Schreibtisch saß. Anna Lochner mochte vor zehn Jahren, als sie geheiratet hatte, eine schöne Frau gewesen sein. Sie hatte blondes, splissiges Haar, das in Wellen auf ihre Schultern fiel. Irgendwie erinnerte sie an Marlene Dietrich in einer tragischen Rolle. Sie war blass, eine spitze Nase, schmale Lippen, die meist in einer Art Selbststrenge aufeinander gepresst waren.
»Ich habe ihnen doch schon gesagt, dass er mir nur selten von seinen Geschäftsgängen erzählte. Nur, wenn es mal Probleme gab oder …«
»Und dann offensichtlich auch nicht. Frau Lochner, Ihr Mann ist die Treppe der Schwebebahn hinaufgejagt worden. Vermutlich hatte der Täter die Waffe schon vorher gezogen. Sonst hätte er nicht so schnell reagieren und ihren Mann erschießen können, gerade als der in den Waggon springen wollte. Und das alles mit Schalldämpfer und vor laufendem Publikum.«
»Ich dachte, niemand hat ihn gesehen?«
»Das kommt hinzu: Die Aufmerksamkeit der Leute war offensichtlich allein auf ihren Mann gerichtet. Und der Täter hat sich wahrscheinlich so geschickt in den Winkel der Treppe gestellt, dass er kaum gesehen werden konnte. Frau Lochner, das war kein Dilettant!«
Die Wände des Arbeitszimmers hingen voll von Fetischen aus allen möglichen Ländern der dritten Welt: Ebenholzmasken, Amulette, Glücksbringer aus Jade. Das kleine Fenster zur Straße ließ in Streifen Licht durch die Rolläden. Draußen fuhr gerade ein Wagen an. Laute türkische Musik schwappte ins Zimmer und entfernte sich schnell.
Anna Lochner stützte sich mit dem Ellbogen auf die Schreibtischplatte. Sie hatte rot geränderte Augen, und Bärhalter war nicht klar, ob sie um ihren Mann trauerte oder weil sie nun nicht wusste, wie es mit dem Schmuckgeschäft weiter gehen sollte.
»Frau Lochner, gab es denn da irgendwelche schärferen Konkurrenzen als gewöhnlich, oder gar Feindschaften? Ich meine, Ihr Mann handelte schließlich mit Edelsteinen und nicht mit Milch oder Butter. Ich kann mir denken, dass es da auch manchmal um sehr viel Geld ging.«
»Das ist das Bild, das man gemeinhin von der Edelsteinbranche hat. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir, zumindest was das Finanzielle angeht, nicht viel anders gelebt haben wie ein Milchhändler.«
«Schulden. Hatten Sie Schulden?«
»Hatten! Was heißt hatten? Was glauben Sie, was mir seit Tagen durch den Kopf geht? Wie ich all diese Schulden bezahlen soll! Ob ich das Haus verkaufen soll! Mein Mann war, was Finanzen anging, ein …« Anna Lochner winkte mit einer verächtlichen Handbewegung in Richtung der schwarzen Masken ab.
»Ein? Ihre Ehe war wohl nicht besonders glücklich?«
»Ich glaube, das führt uns nicht weiter, Herr Bärhalter. Wessen Ehe ist denn besonders glücklich? Ihre vielleicht?«
»Nun ja, zumindest ist es eine – wie soll ich sagen – beständige, auf festem Grund befindliche.«
Anna Lochner brach in ein lautes Lachen aus, das irgendwie hässlich klang. Ihr Gesicht war mit einem Mal verzerrt. Sie sah aus, als streite sie sich gerade und als sei Bärhalter ihr Mann.
Bärhalter stieß nach: »Sagen Sie, es gab vor wenigen Tagen einen Todesfall im Mercuria-Hotel. Junger Mann, Mitte Dreißig, türkischer Abstammung. Er wurde in einem der Zimmer tot aufgefunden. Er ist an einer Überdosis Kokain gestorben. So, wie es aussah, mitten beim Backgammon-Spiel. Mein Kollege Winterberger führt in diesem Fall die Ermittlungen. Er meint, da müsse noch jemand gewesen sein, den wir nicht kennen. Denn wer spielt schon allein? Es hat dazu einen anonymen Hinweis gegeben, einen Hinweis, dass es sich bei dem Unbekannten um Ihren Mann gehandelt habe. Frau Lochner, stand er in Kontakt mit Drogen?«
Anna Lochner war in ihrem Stuhl zurückgesackt. Sie hielt die Hände vor das Gesicht, ihre langen, dünnen Finger bedeckten die Augen, Bärhalter hört sie schluchzen. Gefühlsausbrüche waren ihm unangenehm. Er hatte außerdem im Laufe seiner Karriere gelernt, dass man an ihnen nie viel festmachen konnte. Emotionen konnten ebenso gut gespielt sein. Fakten nicht. Er dachte daran, Lochners Kontenbewegungen unter die Lupe zu nehmen und an einem anderen Tag wiederzukommen. Hier war im Moment nichts zu erfahren. Bärhalter stand auf und ging zur Tür. Die Klinke in der Hand drehte er sich noch einmal um: »Wagner, haben Sie den Namen schon einmal gehört? Jens Wagner.« Anna Lochner schluchzte weiter, während sie mit dem Kopf schüttelte.
6.
Wagner war nun schon zum zweiten Mal an diesem weißen Mercedes vorbeigelaufen, den er sich als Wendemarke ausgesucht hatte. Er bog von den Parkplätzen wieder nach rechts ab auf den Bismarckturm zu, der mit seinem verwitterten Quadergestein aus Muschelkalk das Panorama mit den südlichen Anhöhen gegenüber in zwei Hälften teilte. Obwohl das Gelände der Hardtanlagen hier oben über der Stadt ziemlich eben war, schnappte Wagner schwer nach Luft. 1,5 Kilometer, die er bis jetzt schon geschafft hatte, waren für ihn eine echte Herausforderung. Noch ein, zwei Runden, und er wollte es für heute gut sein lassen.
Seine Schritte knirschten auf dem roten Schotterweg. Wagner versuchte an nichts zu denken, weil ihm die ständige Zählerei, wieviel er noch an Wegstrecke zu absolvieren hatte, das Laufen erschwerte. Der Weizenbierbauch wackelte im Rhythmus, der runde Schweißfleck unterhalb des Brustbeins wurde immer größer. Wagner atmete nun mit offenem Mund, was er eigentlich nicht gerne tat. Er hatte Angst, dass ihm irgendwelche Insekten in den Mund fliegen könnten, wie sie das vor allem abends häufig taten. Um ihn herum waren aber-und-aber-viele Kubikmeter Raum und Luft, und diese Viecher hatten nicht Besseres zu tun, als ihm in den Rachen zu fliegen. Aber vielleicht war das auch eine Frage der Luftströmungen und -temperaturen, und wenn er hier mit 37° Grad heißem Atem daherkam, war das für einige Insekten offensichtlich eine willkommene Einladung.
Die Sonne war rot hinter den Hochhäusern der Außenbezirke untergegangen. Es war jetzt angenehm kühl, eigentlich. Schweiß lief Wagner in die Augen. Noch anderthalb Runden. Er passierte den Botanischen Garten, in dem er sich vorhin noch gezwungen gesehen hatte, dieser Führung zu einem Streifzug durch die Welt von Sumatra beizuwohnen. So nannte man die neue Ausstellung im großen Gewächshaus. Witzleben, seine Chefredakteurin hatte ihn hierher geschickt, und Wagner hatte beschlossen,