Menschenwürde und Bildung. Friedrich Schweitzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Schweitzer
Издательство: Bookwire
Серия: Theologische Studien NF
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783290176549
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Bedrohungen der Menschenwürde sind ein leider wahrhaft globales Problem. Wie kann die Würde des Menschen wirklich geschützt werden? Inwiefern und für wen ist sie am Ende wirklich, mit dem deutschen Grundgesetz gesprochen (Art. 1,1 GG), »unantastbar«?

      Auch die Verbindung von Menschenwürde und Bildung gehört in diesen Umkreis aktueller Herausforderungen. Das Recht auf Bildung erwächst aus der Menschenwürde, und umgekehrt verpflichtet diese Würde, wo sie bestimmungsgemäß gelebt werden soll, zur Wahrnehmung von Bildungsmöglichkeiten. Dies gilt zumindest in evangelischer Sicht, womit zugleich eine weitere Problemdimension angesprochen ist. Beide, Menschenwürde und Bildung, werden heute in unausweichlich pluralen Zusammenhängen thematisiert, also von unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Voraussetzungen her. Dies bedeutet eine Begrenzung der Reichweite und des Verpflichtungscharakters des jeweiligen Verständnisses, aber muss es deshalb auch zu einem Relativismus einerseits oder einem strikten Neutralitätsdenken andererseits führen? Kann ein evangelisches Verständnis |8| von Menschenwürde und Bildung heute noch öffentliche Bedeutung beanspruchen – gerade auch in der Pluralität?

      Eine kleine Studie wird nur einen Teil der damit angesprochenen Fragen behandeln oder gar beantworten können. Ihr Reiz liegt in der Beschränkung und Konzentration – im vorliegenden Falle auf das evangelische Bildungsverständnis. Für diese Konzentration können zumindest Gründe angegeben werden. Denn auch hier gilt: Obwohl heute so oft von einem Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung gesprochen wird und man sich in der Kirche darauf beruft, bleibt doch vieles unklar und wird wenig entfaltet. Zugleich wird gerade der Zusammenhang mit Bildung in der breiten Literatur zur Menschenwürde noch immer eher selten aufgenommen, auch in der Theologie.

      Beschränkt ist die Studie auch in formaler Hinsicht. Doch hat eine thesenhafte Form bekanntlich durchaus Vorteile. Manche werden auch für die nur knappen Literaturhinweise dankbar sein, während andere vielleicht vermissen, was ihnen besonders wichtig scheint. Deshalb sei an dieser Stelle wenigstens pauschal auf die zum Teil ausgezeichneten Artikel in den üblichen Nachschlagewerken (TRE, RGG, LThK u. a.) verwiesen, die auch ich selber mit Gewinn konsultiert habe. Zitiert wird in den Anmerkungen im Übrigen nur mit Kurztitel; die vollständigen Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis am Ende der Studie.

      Ich freue mich, dass die nun in neuer Folge erscheinenden Theologischen Studien sich so früh auch auf pädagogische Fragen eingelassen haben. Das hat durchaus Tradition. Heft 2 der ursprünglichen Reihe war dem Thema Evangelium und Bildung gewidmet, und kein anderer als Karl Barth hat diese Schrift damals verfasst. Seine Thesen werden auch im Folgenden eine Rolle spielen.

      Danken möchte ich besonders Thomas Schlag, der mich als Mitherausgeber der Reihe zu dieser Studie angeregt und ihr Entstehen begleitet hat. Katharina Blondzik und Annika Fiedler haben mich bei der Manuskripterstellung unterstützt, während Kristina Lamparter mich unermüdlich mit Literatur versorgt hat. Auch ihnen gilt mein besonderer Dank!

      Friedrich Schweitzer

      Der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung wird heute vielfach thematisiert. Im Zentrum stehen dabei zumeist Fragen nach Herausforderungen am Beginn und am Ende des Lebens – von extrauteriner Zeugung, pränataler Diagnostik und Stammzellenforschung bis hin zur Sterbehilfe. Zwangsläufig sind dabei auch religiöse und religiös-ethische Dimensionen berührt, da es unvermeidlich um unterschiedliche Vorstellungen vom Menschsein und von dessen Würde geht. Davon zeugt auch die aktuelle rechtlich-politische Debatte um die Begründung und Auslegung der Menschenwürde in den Menschen- und Grundrechten.

      Zahlreiche gesellschaftliche und politische Initiativen berufen sich auch auf die Menschenwürde, wenn sie Bildungsmöglichkeiten für diejenigen einklagen, denen sie noch immer vorenthalten werden. Ein solches Verständnis von Menschenwürde schließt sich mehr oder weniger ausdrücklich den Menschenrechten an oder auch den entsprechenden Garantien im Recht der Einzelstaaten, in Deutschland etwa dem Grundgesetz mit den Grundrechten. In deutlichem Kontrast zu solchen Garantien steht etwa der Befund, dass beispielsweise Kinder mit einem sogenannten Migrationshintergrund weithin von vornherein geringere Bildungschancen haben als andere Kinder.

      Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung ist zugleich ein Thema innerhalb der Kirche. Bei pädagogischen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, etwa bei Kindergärten, wird vermehrt nach deren christlichem oder evangelischem Profil gefragt. Beantwortet wird diese Frage gern mit dem Hinweis auf das besondere Menschenbild, für das man sich häufig auf die Gottebenbildlichkeit beruft. In einer solchen Einrichtung seien alle Kinder willkommen, und alle seien gleich anerkannt. Die Gottebenbildlichkeit wird hier auf Kinder bezogen und als Voraussetzung der Menschenwürde interpretiert.

      Eine rechtliche Begründung dafür, dass die Menschenwürde einen Anspruch auf Bildungsmöglichkeiten konstituiert, fällt in der Tat leicht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) beispielsweise spricht schon in der Präambel von der »angeborenen Würde« sowie von der Anerkennung der »gleichen und unveräußerlichen |10| Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen«. Artikel 1 unterstreicht dies nachdrücklich: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Artikel 26,1 schließlich hält unmissverständlich fest: »Jeder hat das Recht auf Bildung.« Und ähnlich heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949), gleich in Art 1,1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Zusammen mit dem »Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Art. 2,1) ergibt auch dies eine Begründung für das Recht auf Bildung. Und um noch ein weiteres wichtiges Dokument zu nennen – das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« (sog. Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, 1989) bestätigt in Art. 28 erneut das »Recht des Kindes auf Bildung« und verweist darüber hinaus auf die »Chancengleichheit« (Art. 28,1) sowie auf das »Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard« (Art. 27,1).1

      Der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung scheint also evident. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass er auch zur wirksamen Richtschnur für politisches und pädagogisches Handeln geworden wäre. Denn bereits die programmatische Berufung auf diesen Zusammenhang in unserer Gegenwart lässt erkennen, dass mit erheblichen Realisierungsproblemen zu rechnen ist. Aus der Evidenz von Bildungsrechten erwächst auch in diesem Falle noch keine Garantie für deren praktische Gewährleistung, schon gar nicht im Sinne einer wirklichen »Chancengleichheit«, wie aus der entsprechenden Bildungsforschung längst bekannt ist.2 In der Realität reproduzieren die auf »Chancengleichheit« eingestellten Bildungssysteme allemal die Unterschiede bei den Kindern vor dem Schuleintritt. Das zeigen ebenso die Ergebnisse der Bildungsreformen der 1960er Jahre, die auch international im Zeichen der »Chancengleichheit« standen, wie die aktuellen Befunde aus den PISA-Schulvergleichsuntersuchungen.3

      Man kann dies auch so ausdrücken: Hinter den Realisierungsproblemen zeichnen sich weiterreichende Motivations- und Spezifizikationsprobleme ab. Rechtstexte besonders so abstrakter Art, wie es |11| die Grund- und Menschenrechte sind, entbinden bei den Menschen offenbar – trotz ihrer zumindest beabsichtigten Evidenz – nicht sogleich auch eine entsprechende Bereitschaft oder Motivation dafür, sich für ihre Realisierung einzusetzen. Auch wer sich gerne für sich selbst auf solche Rechte beruft, zieht daraus offenbar nicht notwendig die Konsequenz, sich auch für die Rechte anderer einzusetzen.

      Bei der »Würde des Menschen« dürfte dies auch damit zusammenhängen, dass gar nicht so leicht zu sagen ist, was damit eigentlich gemeint sein soll. Es fällt schwer, diese »Würde« zu spezifizieren, sie also näher zu bestimmen, so dass sie als Grundlage pädagogischen Handelns in Anspruch genommen werden kann. Denn dazu ist ein bestimmtes Menschenverständnis erforderlich, wie es abgekürzt gern als Menschenbild bezeichnet wird.

      Damit stoßen wir zugleich auf ein weiteres Problem, das sich vor allem dem Staat in diesem Zusammenhang stellt. Das staatliche Recht in demokratischen Staaten kann und darf keine Menschenbilder vorschreiben, weil dabei unvermeidlich religiöse und weltanschauliche Überzeugungen ins Spiel kommen, deren Freiheit und damit Pluralität jede moderne Demokratie doch wesensmäßig voraussetzen muss. Aber wie soll pädagogisches Handeln dann noch von der Menschenwürde