Die vorstehend skizzierte bourgeoise Mentalität, von der man nicht behaupten soll, dass sie heute der Vergangenheit angehöre, musste sich in Deutschland am stärksten auswirken in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als das liberale bürgerliche Unternehmertum, das durch die Gründung des Bismarck-Reiches einen gewaltigen Auftrieb erhalten hatte, wirtschaftlich, parlamentarisch und gesellschaftlich immer mehr Positionen eroberte. Es war die Zeit des Lebens und das Leben lassen unter entscheidender Akzentuierung des ersten Teiles dieses Mottos seitens derer, die darüber zu bestimmen hatten. Im Sozialistengesetz von 187820 bekam das deutsche Proletariat die harte Hand der mit den Junkern verbündeten nationalliberalen Gebieter der deutschen Wirtschaft zu fühlen; die von Außenseitern auf Wilhelm I. verübten Attentate boten den willkommenen Vorwand, die Forderungen der arbeitenden Klasse auf politische und wirtschaftliche Mitbestimmung — diese Forderungen waren für die Unternehmer in Wahrheit „gemeingefährlich“, nicht die Attentate, die dem Gesetz nur die Staffage liehen — abzudrosseln.
— Gesellschaftlich drängte dieses Unternehmertum die bis dahin, zumal in Preußen und Berlin, tonangebende Schicht zurück und spielte sich durch sein Geld in den Vordergrund. Wie Pilze aus der Erde schössen die „Kommerzienräte21“ empor und verpflanzten die Herrschaft, die sie in den Kontoren22 und Fabriken übten, auch in die ,,Salons“ der Hauptstadt; weitgehend wurde die Aristokratie der Geburt durch die des Geldsackes abgelöst. Geld, Geld und noch einmal Geld war die Losung. Die Zeit der Herrschaft der Gruppen, die Heinrich Mann in seinem „Schlaraffenland“ den „unheimlichen Clan der Geschäftsleute“ mit den „Raubtierinstinkten“ genannt hat, kündigte sich an, und als Folge davon jene Lage, die in dem gleichen Werk so umrissen ist: „Majestätsbeleidigungen und Gotteslästerungen kann sich bei dem Fortschritt heutzutage der Ärmste leisten, aber haben Sie schon mal jemand gekannt, der an Türkheimer geklingelt hat? Sehnsewoll! Das ist nämlich beträchtlich kitzliger.“
Man muss diese Verhältnisse überschauen, um die Schärfe voll verstehen zu können, mit der Theodor Fontane in seinem 1892 erschienenen Roman „Frau Jenny Treibel“ die Kritik an dieser Gesellschaft formulierte — die Schärfe wenigstens für seine auf Kompromiss und „Konzilianz“ gerichtete Art. Die Gesellschaftskritik bei Fontane wird ja vielfach überschätzt. Was als solche erscheint, ist häufig nur Ausdruck seines unbezähmbaren Hanges zu Spott und Ironie. Dabei war ihm ziemlich jedes Objekt recht, das er zum Ziel der freilich stets beschwingten, graziös gefiederten Pfeile seines Spottes machen konnte. Er verteilte die Geschosse, die er seinem schier unerschöpflichen Köcher entnahm, einigermaßen gleichmäßig. Van der Straaten, der Kommerzienrat in „L‘adultera“ wird von ihnen ebenso getroffen wie der altadlige Baron Duquede aus dem gleichen Roman, das gräflichfreiherrliche Freundespaar „Sarastro“ - „Papageno“ in „Stine“ ebenso wie die Witwe Pittelkow. Die Beispiele ließen sich mehren; im Wesentlichen hat Fontane der Neigung zu dieser karikierenden Art des Charakterisierens erst in den beiden letzten Romanen „Effi Briest“ und „Stechlin“ entsagt. Befremdend wird es nun für den, der Fontane nicht kennt, sein, dass oft auf eine Bemerkung dieser Art eine zweite unmittelbar folgt, die jene wieder aufhebt oder doch abschwächt; der mit der Wesenheit Fontanes nicht Vertraute weiß dann nicht recht, ob der Dichter die betreffende Gestalt ernst genommen wissen will oder sich über sie lustig macht. Es gibt eine für diese Figuren Fontanes ungemein aufschlussreiche Stelle aus einem frühen Brief. Als er im Herbst 1856 nach England reist, macht er in Paris Station und beantwortet dem Vater „die große Frage London oder Paris“ sehr zugunsten von London. Eben hat er jedoch sein für Paris wenig günstiges Urteil niedergeschrieben, da stutzt er und sagt: „Wie es mir immer geht, wenn ich ein Urteil ausgesprochen habe, so auch diesmal kaum steht es da, so fang‘ ich an, die Richtigkeit zu bezweifeln“; und nun folgt eine Nachschrift, die das erste Urteil entscheidend revidiert. Ähnlich ging es ihm wohl als in seinen Romanen. Hatte er eine seiner Gestalten gestreichelt, so hielt er einen satirischen Tatzenhieb für angebracht, und umgekehrt. Dieses Auf und Ab, das in seinem Werk zu verfolgen ist, ist wohl zu erklären an dem inneren Zwiespalt, in dem er sich je länger desto mehr befand, aus dem Widerstreit seiner innersten Sympathien und jenes unwiderstehlichen Hanges zu Ironie und Persiflage. Fontane war mit einem kaum zu übertreffenden Blick für die großen und kleinen Schwächen der Menschen begabt und seine Art ließ ihn diese Schwächen schärfer sehen als die Vorzüge. Aber der „preußische Konservative, der sich wohl selbst für einen Nationalliberalen hielt“, wie kürzlich gesagt worden ist, bejahte in seinem Herzen das, was er verspottete, und zwar nicht nur die Welt der brandenburgisch- preußischen Geschichte, sondern offenbar auch die der bürgerlichen Scheinblüte nach dem 70er Kriege23. In einem Reisebrief des Sommers 1880 zog er einen Vergleich zwischen Hamburg und Berlin und sagte: „Dabei sei bemerkt, dass ich mich doch mehr und mehr zum Preußen- und Berlinertum zu bekennen anfange. Freilich spät, aber besser spät als gar nicht. Das alte Berlin und das alte Preußen waren allerdings etwas Entsetzliches, und wo ihr Pferdefuß zum Vorschein kommt, find‘ ich es noch heute furchtbar. — Aber seit 1840, seit 1848 und namentlich seit 1870 ist alles anders geworden, und wir haben nun selbst die Gegenden in Deutschland weit überflügelt, die früher Vorbilder für uns sein konnten.“ Dresden war ihm ein „pauvres24, zurückgebliebenes Nest“ und Hamburg, auf dessen Menschen und Eigentümlichkeiten ja gerade auch in „Frau Jenny Treibel“ scharfe Seitenhiebe fallen, hatte vor der Reichshauptstadt nur seine „Gewaschenheit und Sauberkeit“ voraus. Sonst marschierten ihm Berlin und Berlinertum durchaus an der Spitze; auch er unterlag der Wirkung des äußerlichen Erfolges und Glanzes. Und was den Zeitpunkt seines Bekenntnisses zum Preußen- und Berlinertum angeht, so sieht es doch aus, als ob dieser weit früher liegt. Denn was sind die historischen Balladen preußischer Prägung, was auch die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, die in den 60er Jahren erschienen, anders als ein solches Bekenntnis? Und schon in den 50er Jahren war Fontane in manchem Streit mit dem allem, was Preußen und Berlin hieß, bitter abgeneigten Theodor Storm warm für jene eingetreten. Dass er beide immer wieder ironisierte, lag in seiner Art; er konnte nicht anders. —
Wenn Fontane nun in „Frau Jenny Treibel“ verhältnismäßig so scharfe Töne anschlug, so offenbar deshalb, weil der Künstler in ihm gegen das geldraffende bourgeoise Protzentum revoltierte, das zu beobachten er zwischen 1870 und 1890 so überreich Gelegenheit hatte, und — auch das kann in Anschlag gebracht werden; es ist ja durchaus menschlich — aus Groll darüber, dass man ihm doch nicht die Anerkennung zollte, auf die er Anspruch zu haben glaubte, materiell nicht und auch sonst nicht. In dem Brief aus dem Sommer 1880 findet sich auch eine bittere Bemerkung über die „Verehrer, die ja zeitlebens so viel für mich getan“, und Storm, der alte Freund und Widersacher in einem, der ihn nach langen Jahren 1884 wiedersah, fand ihn „sich etwas vereinsamend, wie ins Altenteil sich zurückziehend.“ Dass der märkische Adel seinem Dichter nur geringe Beachtung schenkte, verzieh Fontane ihm allenfalls; dass er aber auch für das Bürgertum nicht viel mehr war als ein gehobener „Literat“, dass es ihm trotz aller Arbeit auch materiell nicht sonderlich glänzend ging, verdross ihn und erzeugte mit der Zeit eine tiefe Verbitterung. Und diese fand offenbar in „Frau Jenny Treibel“ ihren Niederschlag; es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man annimmt, dass sie Werden und Formung dieses mit seiner Gesellschaftskritik unter den Romanen Fontanes einen besonderen Platz einnehmenden Werkes nachhaltig beeinflusst hat.
Wer ist diese Jenny Treibel, née25 Bürstenbinder, Frau des Kommerzienrates Treibel, Berlinerblau und Blutlaugensalz in der Köpenicker Straße26, dieses „Musterstück von einer Bourgeoise“, diese „furchtbare Frau“? Sie gehört zu der üblen Spezies der Emporkömmlinge, die ihre bescheidene Vergangenheit durch verstärktes Pochen auf den Geldsack, durch doppelten Hochmut gegenüber allen Nichtbesitzenden wettzumachen suchen. Und sie, die berechnend und geizig und nur auf Äußerlichkeiten eingestellt ist, die „immer die Fäden in der Hand hat“, alles bestimmen will in Haus und Familie, die jede eigene Initiative bei dem Schwächling von Sohn lähmt — sie liebt es, das alles zu verbrämen mit einer peinlichen Sentimentalität, die sie in rührseligen Reminiszenzen und Liedchen, in platonischer Sehnsucht nach „einfachen Verhältnissen“ schwelgen lässt; bei jeder Gelegenheit verfügt sie über