Pünktchen legte den Arm um den kleinen Jungen, fast genauso lieb und mütterlich wie zuvor Denise von Schoenecker. »Es wird schon irgendwie klappen, Bastian. Tante Ma ist unsere Heimleiterin und wahnsinnig nett. Vielleicht erlaubt sie es, wenn dein Hund wirklich so ein Wundertier ist.«
»Sie muss machen, was mein Vati sagt«, trumpfte Bastian auf. »Mein Vati hat nämlich alles zu bestimmen.«
Pünktchen verzog den Mund. »Ach, so ist das«, murmelte sie betreten. »Nun, wir werden es ja erleben.«
»Einstweilen können wir Bastian unsere Tiere zeigen. Wir haben nämlich Ponys auf Sophienlust. Interessiert dich das?«, mischte sich Nick ein, der sich für den Ablauf der Geschehnisse in gewisser Weise verantwortlich fühlte. Denn ihm war Sophienlust als Erbe seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin zugefallen. Er stammte aus der ersten Ehe seiner Mutter, die in zweiter Ehe Alexander von Schoenecker geheiratet hatte. Der Gutsherr von Schoeneich war verwitwet gewesen und hatte zwei größere Kinder, Sascha und Andrea, mit in die Ehe gebracht. Jetzt studierte Sascha in Heidelberg, Andrea aber war bereits verheiratet. Der jüngste Sproß der glücklichen Familie, deren Wohnsitz das unweit von Sophienlust gelegene Gut Schoeneich war, war Henrik, der nun schon die Dorfschule besuchte.
Nick war von Bastian Schlüter nicht sonderlich entzückt, aber er ließ es sich nicht anmerken, sondern gab sich alle Mühe, sich als vorbildlicher Hausherr zu zeigen. Je älter Dominik, genannt Nick, wurde, desto mehr wuchs er zur Freude seiner Eltern in seine künftige Aufgabe als Herr auf Sophienlust hinein. Doch im Augenblick wurde das Kinderheim – nach dem Willen der Erblasserin Sophie von Wellentin im ehemaligen Herrenhaus eingerichtet – noch von seiner Mutter mit Unterstützung der tüchtigen Frau Rennert geleitet. Die Verwaltung des Gutsbetriebes hatte dagegen Nicks Stiefvater Alexander von Schoeneich übernommen.
Die Erwähnung der Ponys machte den verwöhnten, affektierten Neuling ein bisschen neugierig. Einigermaßen einträchtig zog die Kinderschar los, um Bastian Schlüter Sophienlust zunächst einmal zu zeigen.
*
Die Unterhaltung, die sich zur gleichen Zeit im Biedermeierzimmer des Herrenhauses von Sophienlust abspielte, war für Alexander und Denise von Schoenecker nicht gerade erfreulich. Längst hatte Alexander sein spontanes Angebot an den früheren Klassenkameraden bereut. Kurt Schlüter lebte jetzt in Augsburg und besaß dort eine Fabrik. Er war zu großem Reichtum gekommen, doch das war ihm leider entsetzlich zu Kopf gestiegen. Schon die Art, wie er seinen Sohn dazu angehalten hatte, jedermann zu verkünden, dass er der Sprössling des Herrn Generaldirektors sei, wirkte auf so natürliche Menschen wie die von Schoeneckers abstoßend. Auch sonst hatte Alexander, der sich inzwischen eingehend über Kurt Schlüter erkundigt hatte, allerlei Ungünstiges zu hören bekommen. Doch er hatte die einmal gegebene Zusage nicht rückgängig machen wollen.
Jetzt also saß das Ehepaar von Schoenecker zusammen mit Kurt Schlüter im ehemaligen Wohnzimmer Sophie von Wellentins, deren Ölgemälde auf jeden Besucher von Sophienlust herabblickte. Dieses Zimmer war so geblieben, wie es zu Lebzeiten von Nicks Urgroßmutter gewesen war. Denise hielt manchmal mit dem Bild der alten Dame stumme Zwiesprache und holte sich auf diese Weise Rat und Kraft, wenn sie in einer ausweglosen Situation nicht mehr weiter wusste. Denn mit den Kindern hatten schon viele schwere Schicksale in Sophienlust Einzug gehalten, das gelegentlich auch in Not geratenen Erwachsenen Zuflucht bot.
Was Kurt Schlüter allerdings zu berichten hatte, das veranlasste Alexander von Schoenecker, seiner Frau einen schuldbewussten Blick zuzuwerfen. Nein, damit hatte er denn doch nicht gerechnet!
»Wir sind ja unter uns, und ich brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen«, begann Kurt Schlüter, nachdem man sich über Pensionspreis und Dauer des Aufenthalts von Bastian rasch einig geworden war.
»Selbstverständlich, Kurt, sprich dich nur aus«, warf Alexander ein. »Meine Frau legt Wert darauf, die persönlichen Verhältnisse unserer Kinder kennenzulernen. Das erleichtert ihr den Umgang mit einem neuen Kind, wie du dir gewiss vorstellen kannst.«
»Nun ja, ich sagte dir bereits, dass ich für drei Monate auf eine Weltreise gehen werde. Aber im Rahmen unseres Abituriententreffens fand ich keine Gelegenheit, dir die Einzelheiten zu erläutern. Schau, ich werde nicht allein reisen. Hoffentlich finden Sie das nicht schockierend, gnädige Frau.«
Denise lächelte ihn scheinbar unschuldig an. »Ich nehme an, Sie reisen mit Ihrer Frau, Herr Schlüter«, sagte sie. Dabei wusste sie genau, dass sie ihn damit ein bisschen in Verlegenheit brachte.
»Nein, nicht mit Angela. Wir beide haben uns leider völlig auseinandergelebt«, versetzte Kurt Schlüter betont kalt. Denises Frage war ihm nicht einmal peinlich. »Gerade Sie werden verstehen, dass man in einer gewissen gesellschaftlichen Stellung mit einem Bäckermeistertöchterlein nichts anfangen kann. Sie passt einfach nicht mehr in die Landschaft. Sie wird unsicher, wenn bei mir bekannte und berühmte Leute im Haus aus und ein gehen, ja, sie benimmt sich meist ganz unmöglich und bringt mich in die unangenehmsten Situationen. Es ging einfach nicht mehr mit Angela und mir. Das hat sie auch eingesehen. Allerdings sind wir bis jetzt nicht geschieden. Das muss in der richtigen Weise geschehen, damit es keinen Skandal gibt. So etwas kann ich mir in meiner Stellung natürlich nicht leisten. Sie verstehen doch, gnädige Frau, und du auch, Alexander?«
Weder Denise noch Alexander von Schoenecker antworteten darauf. Doch selbst das erschütterte den Herrn Generaldirektor nicht. Er fuhr fort: »Ich reise mit Hella von Walden, meiner Freundin. Sie stammt aus verarmtem Adelsgeschlecht und ist eine schöne Frau. Sowie die Sache mit Angela geregelt ist, werden wir heiraten. Aber erst einmal will ich drei Monate lang alles hinter mir lassen und mich gründlich erholen. Ich hatte entsetzlich viel Arbeit in den letzten beiden Jahren und habe eine Ausspannung dringend nötig. Hella wird mich begleiten und ablenken. Wenn wir wiederkommen, sehen wir weiter.«
»Wird Ihre Frau Bastian besuchen kommen?«, erkundigte sich Denise reserviert.
Kurt Schlüter schüttelte den Kopf. »Nein, sie weiß gar nichts davon, dass ich verreise, und soll es auch nicht erfahren. Dass ich Bastian hierherbringe, habe ich ihr ebenfalls nicht mitgeteilt, nur, dass der Junge sich in einem erstklassigen Heim befindet. Sie wird sich damit zufriedengeben, denn sie hat keine Zeit, sich um Bastian zu kümmern. Starrköpfig, wie sie immer schon war, lehnt sie jede finanzielle Unterstützung von mir ab und ist berufstätig – glücklicherweise nicht in Augsburg. Das wäre doch zu geschmacklos. Sie haust irgendwo in einem möblierten Zimmer und schmollt. Aber ich bin überzeugt, dass sie mir wegen der Scheidung keine Schwierigkeiten machen wird. Die Ehe mit ihr war ein Irrtum von beiden Seiten. Es fing schon damit an, dass wir jahrelang vergeblich auf Nachwuchs warteten. Dann endlich stellte sich Bastian ein. Aber er ist ein schwächliches Kind, hält sich schlecht und ist schwer zu erziehen. Ich mache mir Sorgen, wie er mal mein Nachfolger werden soll. Es sieht bis jetzt so aus, als hätte er dazu gar nicht das Zeug. Er hat zu viel von Angela. Aber das ist nun leider nicht zu ändern.« Kurt Schlüter seufzte, als sei er von einem schweren, ungerechten Schicksalsschlag betroffen worden.
Alexander von Schoenecker beendete die peinliche und unerfreuliche Unterredung. Fast unhöflich machte er Kurt Schlüter darauf aufmerksam, dass schon fast eine halbe Stunde verstrichen sei und dass er es doch eilig hatte.
Schon wenige Minuten später begleitete das Ehepaar von Schoenecker Kurt Schlüter zu seinem Rolls-Royce, der von Henrik und einigen anderen Jungen in der Zwischenzeit aus ehrfürchtiger Entfernung bestaunt worden war. Wegen des Chauffeurs, der steif wie eine ausgestopfte Schaufensterfigur hinter dem Steuer saß, trauten sich die Buben nicht näher heran. Sie schlossen sich schließlich den anderen Kindern an, die Bastian Sophienlust zeigten.
Kurt Schlüter verzog ein bisschen die Nase, als Bastian nach einigem Suchen ausgerechnet im Schweinestall entdeckt wurde, wo Nick ihm gerade eine Sau mit einem Wurf von vierzehn Ferkeln gezeigt hatte.
»Im Schweinestall warst du?«, wandte er sich an seinen Sohn. »Das ist auch nicht der richtige Aufenthalt für dich. Also, benimm dich hier so, wie es Herr und Frau von Schoenecker von dir erwarten können, mein Sohn. Ich werde dir von unterwegs Postkarten schreiben. Dann kannst du immer im Atlas nachsehen, wo ich bin. Wenn ich zurückkomme, werde ich fragen,