Dagegen erkennt das Recht seit langem an, dass eine Person im strafrechtlichen Sinne nicht für ihr Tun haftbar ist, wenn sie aufgrund von unbeherrschbaren Umständen, wie etwa infolge einer stark beeinträchtigten psychischen oder physischen Verfassung, einen Schaden verursacht. Welche Art von Entschuldigungen in einer bestimmten Strafsache akzeptiert werden, wird zwar in unterschiedlichen Rechtsprechungen unterschiedlich gesehen, aber Entschuldigungen aufgrund von „psychischer Erkrankung“, „Automatismen“ oder „unwiderstehlichen Impulsen“ werden doch in einer Vielzahl von Rechtsprechungen anerkannt. Natürlich ist der Beweis dafür, dass jemand wirklich an einer solchen Beeinträchtigung leidet, schwer zu erbringen, und die erbrachten Beweise sind oftmals nicht ganz eindeutig. Aber der begriffliche Sachverhalt bleibt doch bestehen: Das Vermögen der Willensfreiheit wird weithin als notwendige Voraussetzung dafür betrachtet, dass man jemanden moralisch und rechtlich für sein Tun verantwortlich machen kann.11
Wie der Rechtshistoriker Thomas Andrew Green festgestellt hat, ist das Strafrecht „auf jeder Ebene vom Problem der Willensfreiheit betroffen: bei der Definition von Straftaten, bei der Beurteilung von Verantwortlichkeit, einschließlich der von uns angewendeten Verfahren, zu einer solchen Beurteilung zu kommen; und bei unserem Umgang mit den für schuldig Befundenen, sei es im formellen Sinne der Institutionen des Strafvollzugs oder der medizinischen Behandlung, sei es im informellen Sinne der sozialen Ansichten bezüglich der Schuldigen.“12 Und als Beispiel dafür, welche Rolle der freie Wille im Zivilrecht spielt, beachte man, dass das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch ausdrücklich auf den freien Willen hinweist: als einer Bedingung für die Geschäftsfähigkeit, das heißt, der Fähigkeit zur Änderung der eigenen Rechte, Pflichten und Verpflichtungen, wenn man zum Beispiel Verträge abschließt oder heiratet.13
Es lässt sich nur schwer vorstellen, wie Moral und Recht sich ändern müssten, wenn man herausfände, dass der freie Wille eine Illusion ist. Was die Moral angeht, so müssten wir die Praxis überdenken, uns gegenseitig für unser Handeln verantwortlich zu halten bzw. zu machen, und im Recht müssten wir zentralen Begriffen wie Freiwilligkeit und Schuldfähigkeit eine neue Bedeutung geben oder sie vielleicht sogar ganz ersetzen. Psychologische Untersuchungen deuten außerdem darauf hin, dass „der Zweifel am freien Willen Aggressionen steigert und die Hilfsbereitschaft verringert“14, dass er die Bereitschaft zum Betrügen erhöht15 und die Unterstützung für die Vergeltungsstrafe schwächt, das heißt für die Strafe, die auf der Vorstellung beruht, dass Menschen für das von ihnen verschuldete Unrecht eine Strafe verdienen.16 Jean-Paul Sartre bemerkte, dass „wir immer bereit [sind], uns in den Glauben an den Determinismus zu flüchten, wenn diese Freiheit uns belastet oder wir eine Entschuldigung brauchen“.17
Natürlich gibt es auch einige, wie etwa den Philosophen Derk Pereboom und den Neurowissenschaftler Sam Harris, die dafür argumentieren, dass wir nicht auf Moral und Recht verzichten müssen, wenn wir die Nichtexistenz des freien Willens akzeptieren. Im Gegenteil: „Ohne freien Willen zu leben“ könnte auch positive Seiten haben.18 Kritiker der Vergeltungsstrafe zum Beispiel mögen wissenschaftliche Entwicklungen begrüßen, die unsere gewöhnlichen Vorstelllungen von Verantwortung und Verdienst infrage stellen, weshalb ihnen die Skepsis hinsichtlich des freien Willens willkommen sein könnte. Wie Pereboom uns erinnert: „Die Stoiker vertraten die Ansicht, dass wir Einstellungen wie Kummer und Zorn mit der Hilfe deterministischer Überzeugungen jederzeit verhindern oder ausmerzen können.“19
Aber auch wenn wir im Allgemeinen den Zweck der Strafe nicht in der Vergeltung sehen, sondern vielmehr in der Verhinderung von Straftaten und in der Resozialisierung von Straftätern, lässt sich nicht leugnen, dass die Vorstellung des freien Willens und verantwortlichen Handelns von zentraler Bedeutung für viele Aspekte menschlicher Gesellschaften ist.20 Man muss deshalb fairerweise sagen, dass es einer weitreichenden Revision unseres Verständnisses der conditio humana bedürfte, wenn wir aufhörten, an die Existenz des freien Willens zu glauben.21
Kurzum: Dem Common Sense zufolge ist die Willensfreiheit eine menschliche Fähigkeit von ebenso zentraler Bedeutung wie die Fähigkeiten des Denkens und Sprechens. Die Herausforderung für die Naturwissenschaft und die Philosophie besteht darin, zu klären, ob wir tatsächlich über diese Fähigkeit verfügen, und wenn ja, wie diese Fähigkeit zu unserer übrigen wissenschaftlichen Weltsicht passt.22
Willensfreiheit versus soziale Freiheit
Bevor ich die Voraussetzungen für den freien Willen ausführlicher diskutiere, möchte ich die Willensfreiheit von anderen Freiheitsbegriffen unterscheiden. Die Willensfreiheit darf nicht mit sozialer, politischer oder ökonomischer Freiheit verwechselt werden. Es lohnt sich daher, kurz zu erklären, was diese anderen Arten von Freiheit ausmacht. Sie haben alle mit den Einschränkungen und Chancen zu tun, mit denen wir in unserem sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld konfrontiert sind, und gehören zu den Dingen, die den meisten von uns sehr am Herzen liegen. Der Kürze halber werde ich einfach von „sozialer Freiheit“ sprechen. Wenn Freedom House, eine einflussreiche Nichtregierungsorganisation, Länder danach beurteilt, wieviel Freiheit sie gewähren, geht es dabei um soziale Freiheit und nicht um die in diesem Buch diskutierte Willensfreiheit im psychologischen oder handlungsbezogenen Sinn. Die Aussage, dass Nordkorea seinen Bürgern wenig soziale Freiheit gewähre, ist kein Urteil über die psychologischen Fähigkeiten von Nordkoreanern als menschlichen Akteuren. Ihre psychologischen Fähigkeiten sind die gleichen wie die von allen anderen Menschen. Dass es den Nordkoreanern an Freiheit mangele, ist vielmehr ein Urteil über die massiven Einschränkungen, denen sie sich in ihrem sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld ausgesetzt sehen, und die begrenzten Chancen, die sie haben.23
Wie Freiheit im sozialen Sinne genau definiert werden sollte, ist umstritten, und die Vertreter unterschiedlicher politischer Standpunkte liefern sich heftige Debatten über diese Frage. Aber nur wenige politische Denker würden bestreiten, dass soziale Freiheit etwas Wertvolles ist.24 Manche glauben, dass soziale Freiheit bloß die Abwesenheit von äußeren Einschränkungen erfordere, während andere der Meinung sind, dass dafür auch substantielle Chancen erforderlich seien. Marktliberale, für die die freie Marktwirtschaft im Zentrum steht, betrachten ungehinderte Markttransaktionen als entscheidend für die soziale Freiheit. Für sozial orientierte Liberale hingegen, denen es um den Wohlfahrtsstaat geht, ist der Zugang zu Ressourcen ebenfalls wichtig.25
Das alles sind wichtige Fragen, aber sie sind nicht Gegenstand dieses Buches. Die philosophische Frage, ob es ein genuin menschliches Vermögen des freien Willens gibt, stellt sich unabhängig von den sozialen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Sie betrifft die Fähigkeiten, die wir als Menschen und nicht als Angehörige einer bestimmten Gesellschaft haben. Betrachten Sie folgende Analogie. Die Frage, wie die menschliche Sprachfähigkeit zu erklären ist, stellt sich unabhängig von den Einzelheiten einer bestimmten, von Menschen gesprochenen Sprache. Wenn der freie Wille zu den menschlichen Fähigkeiten gehört, dann ist es ebenso wie bei der Sprache vernünftig zu glauben, dass die Menschen diese Fähigkeit unabhängig davon haben, wie ihr soziales Umfeld im Einzelnen beschaffen ist. Ja, wir dürfen sogar annehmen, dass auch die Menschen der Urzeit über diese Fähigkeit verfügten, lange bevor die neuzeitlichen Fragen zur sozialen, politischen und ökonomischen Freiheit überhaupt aufkamen – und lange bevor die Menschen den Begriff der Freiheit hatten.
Daraus folgt nicht, dass die Frage der Willensfreiheit für die Debatte über soziale Freiheit belanglos ist. Es spricht vieles dafür, dass diese Debatte implizit voraussetzt, dass es eine menschliche Fähigkeit des freien Willens gibt. Ob es