Mein Handy vibriert erneut. Diesmal taucht Stinas Name auf dem Display auf. Ich lege den ersten Gang ein, lasse langsam die Kupplung kommen und gebe Gas. Das Auto macht einen Hüpfer und ich wünsche mir sehnsüchtig, dass ich Stinas Automatikwagen hätte nehmen können.
Ich zwinge mich dazu, konzentriert zu bleiben. Am Rande der Innenstadt muss ich an einer roten Ampel anhalten. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung sehe ich eine Frau, die sich in ihrem Wagen übers Steuer gebeugt hat. Sie scheint zu weinen. Im Wagen daneben sitzt ein Mann im Anzug und starrt ins Leere. Als die Ampel auf Grün springt, scheint er es nicht mal zu bemerken. Die Autos hinter ihm hupen aufgebracht. Ich fahre weiter, komme schließlich am ehemaligen Industriegebiet Norra Porten vorbei und folge der Bundesstraße, bis ich in das Wohngebiet abbiege, in dem Tilda gemeinsam mit ihren Eltern wohnt.
In den Gärten blüht alles. Überall sind Trampoline und bunte Kinderschaukeln aufgestellt. Auf den Gehweg hat jemand mit Kreide ein Hüpfspiel gemalt.
Die Kinder, die hier wohnen, werden nie erwachsen werden.
Beim Gedanken daran schnürt es mir die Kehle zu.
Emma wird nie …
Ich schiebe den Gedanken an meine Schwester beiseite. Jetzt erblicke ich endlich das weiße Holzhaus, an dem im Lauf der Jahre so oft angebaut wurde, dass es inzwischen eines der größten im ganzen Viertel ist. Der rote Kleintransporter mit dem Schriftzug FIRST KLAS BYGG AB steht auf der Auffahrt. Normalerweise ist Klas um diese Zeit schon seit mehreren Stunden bei der Arbeit. Das Auto von Tildas Mutter hingegen ist nirgends zu sehen. Ich parke auf der Straße. Stina ruft erneut an und ich lasse mein Handy einfach auf dem Beifahrersitz zurück.
Klas öffnet die Haustür, noch bevor ich klingele. Er trägt seine stets verfleckte Arbeitshose mit den Reflektoren an beiden Beinen. Seine Arme, die fleischig und zugleich muskulös sind, quellen aus den Ärmeln des engen T-Shirts hervor, auf dem dasselbe Firmenlogo prangt wie auf dem Transporter. Der darauf abgebildete Mann hält eine tropfende Maurerkelle in der Hand und lächelt breit unter einer schief sitzenden Kappe. Doch der echte Klas lächelt nicht. Die Haut unter seinem Bartansatz ist bleich und seine Augen sind aus den Höhlen hervorgetreten, als wäre der Druck im Inneren seines Schädels zu stark geworden.
»Hallo mein Junge«, begrüßt er mich und umarmt mich wie immer etwas ungelenk, wobei er mir fest auf den Rücken klopft. »Schöne Scheiße, was?«
»Ja«, antworte ich. »Schöne Scheiße.«
»Noch dreieinhalb Monate, sagen sie.«
»Ja.«
Wir bleiben stehen. Ich spüre, wie die Sekunden wegticken, eine nach der anderen. Wie viele Sekunden haben dreieinhalb Monate?
»Sie ist in ihrem Zimmer«, sagt Klas schließlich.
Ich streife mir im Hausflur die Schuhe ab und laufe die Treppe hinauf. Erreiche den Flur im Obergeschoss. Tildas Zimmertür ist angelehnt.
Sie steht am Fenster. Die Sonne lässt ihr dunkles Haar in verschiedenen Kupfertönen schimmern. Als ich zu ihr hereinkomme, dreht sie sich um und schaut mich mit ihren hellen Augen an, die sich scheinbar der Farbe ihrer Umgebung anpassen können, genau wie Wasser.
»Es sieht alles aus wie immer«, sagt sie mit belegter Stimme.
»Ich weiß«, erwidere ich.
»Und bald ist alles weg.«
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Ihr Laptop liegt aufgeklappt auf dem Bett. Darauf läuft gerade eine Nachrichtensendung. Allerdings ohne Ton. Der amerikanische Präsident steht vor einem blauen Banner. WHITE HOUSE CONFIRMS. Mir fällt ein, dass es dort noch tiefe Nacht ist. Auf dem Bildschirm werden Sequenzen von Pressekonferenzen in Russland, Großbritannien und dem Iran eingeblendet. Kurz darauf zeigen sie ein Interview mit dem UN-Generalsekretär. Ich frage mich, wie die Situation wohl auf Dominica ist und ob Judettes Familie gerade dieselben Bilder sieht.
»Du zitterst ja«, sagt Tilda leise.
Sie streicht mir über den frisch rasierten Schädel und ich erwache wie aus einer Trance. Ich umarme sie. Endlich. Sie lehnt ihre Stirn an meinen Brustkorb. Ihre Haare sind noch feucht und ich sauge den Geruch nach Chlor und Shampoo ein. Tildas eigener Duft.
»Noch ist es nicht sicher, dass es tatsächlich passiert«, sagt sie. »Vielleicht werden wir ja verschont. Eine minimale Chance gibt es jedenfalls.«
Ich will ihr lieber nicht sagen, was ich denke. Nämlich, dass man mit diesen Informationen nie an die Öffentlichkeit gegangen wäre, wenn sie nicht als gesichert gelten.
»Oder sie finden irgendeine Lösung«, fährt sie fort. »Vielleicht können sie ja ein riesiges Trampolin aufbauen oder so was.«
Ich lache auf. Aber es klingt eher wie ein Schluchzen. Was es womöglich auch ist.
»Ich hab so große Angst«, gesteht sie.
»Ich auch.«
Tilda schaut zu mir auf. Sie ist so hübsch, dass es geradezu wehtut.
Sie darf nicht sterben.
Wir küssen uns. Die Welt um uns herum verschwindet, schrumpft, bis nur noch unsere Münder und unsere Körper da sind. Tilda schließt leise die Zimmertür, damit Klas es unten nicht hört. Ich stelle mich hinter sie und öffne den Reißverschluss ihres Hoodies. Dann küsse ich ihre Schultern und atme dabei den Duft nach Chlor ein, der nie ganz von ihrer Haut weicht. Ich streichle ihr über den Bauch und ziehe ihr das weiße Shirt aus. Öffne ihren BH. Irgendwie erscheint es mir wichtiger denn je, dass wir uns all unserer Kleider entledigen. Ich will ihre Haut an meiner spüren, jeden einzelnen Quadratmillimeter.
Sie breitet ihre Bettdecke auf dem Fußboden aus, wie wir es immer tun, wenn wir nicht allein im Haus sind. Denn Tildas Bett quietscht viel zu laut.
»Ich hab aber keine Kondome dabei«, gestehe ich nur ungern, während ich mich ausziehe.
»Spielt das denn jetzt noch ’ne Rolle?«, fragt Tilda.
Wir schauen einander an und die Welt dort draußen ist wieder präsent. Ich setze alles daran, sie auszublenden. Also bedecke ich Tildas gesamten Körper mit Küssen und erforsche ihn, als wäre es das allererste Mal.
Schließlich wird sie ungeduldig und zieht mich zu sich heran. Schließt ihre Oberschenkel um meine Taille und weist mir den Weg.
Immer wenn einer von uns beiden zu laut wird, bringen wir uns mit weiteren Küssen gegenseitig zum Schweigen.
Anschließend liegt Tilda schwer atmend mit dem Rücken zu mir auf meinem Oberarm. Es klingt, als wäre sie eingeschlafen. Mein Blick gleitet über die Regale mit den Pokalen und die an die Wand gepinnten Medaillen mit den bunten Bändern. Und bleibt schließlich an einem Ausschnitt aus der Lokalzeitung mit einer Bildunterschrift hängen, die sie als »vielversprechendes Talent« beschreibt. Auf dem Foto trägt Tilda noch ihre Badekappe und lacht.
Tilda nennt diese Wand ihre Inspirationswand. Dort hängen noch mehr Fotos von landesweiten Wettbewerben sowie von Trainingslagern in Dänemark, Italien und den Niederlanden. Auf den meisten der älteren Bilder ist auch eine frühere Freundin zu sehen, Lucinda. Mein Blick bleibt an einem Foto von der Lucia-Prozession im vergangenen Winter hängen. Die gesamte Schwimmhalle einschließlich des Beckens ist abgedunkelt und Tilda trägt eine Lichterkrone auf dem Kopf. Die Flammen der Kerzen spiegeln sich auf der Wasseroberfläche wider. Sie strahlt in die Kamera, um sich nicht anmerken zu lassen, wie schwer das Gewand ist, das im Wasser um ihren Körper wogt. Sie lässt sich niemals anmerken, wie viel sie für dieses Leben opfert und wie viel Fleiß dahintersteckt. Ich kenne niemanden, der so zielstrebig ist wie Tilda. Sie kennt ihren Weg genau. Ich hingegen habe in der Schule zwar gute Noten, weiß aber noch immer nicht, was ich mal werden will. Die Fülle an Möglichkeiten lähmt mich geradezu. Wie soll ich denn schon jetzt wissen, was ich in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren machen will?
Doch nun muss ich mich nicht mehr entscheiden.