Über die Freiheit. John Stuart Mill. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: John Stuart Mill
Издательство: Bookwire
Серия: Kleine philosophische Reihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843804394
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Gesellschaft empfiehlt, deren wirkliche oder vermeintliche Interessen der Demokratie entgegen sind, hat sich ohne Schwierigkeiten festgesetzt; und die »Tyrannei der Mehrheit« gehört nun in der Politik allgemein zu denjenigen Übeln, gegen welche die Gesellschaft auf ihrer Hut sein muss.

      Gleich andern Tyranneien wurde anfangs und wird gemeinhin noch die Tyrannei der Mehrheit hauptsächlich darum gefürchtet, weil sie durch die Handlungen der Staatsgewalt wirkt. Denkende Personen bemerkten jedoch, dass, wenn die Gesellschaft selbst ein Tyrann ist – die Gesellschaft als Ganzes über die besonderen Einzelwesen, welche sie bilden – die Mittel der Tyrannei nicht auf Handlungen beschränkt sind, welche sie durch ihre politischen Funktionäre ausführen kann. Die Gesellschaft kann ihre Befehle vollziehen und vollzieht sie auch; und wenn sie unrechte statt rechte Befehle erlässt oder überhaupt Befehle in Angelegenheiten, in die sie sich nicht mischen sollte, so übt sie eine gesellschaftliche Tyrannei aus, härter als irgendeine politische Bedrückung, indem sie, obgleich sie gewöhnlich nicht so strenge Strafen anwendet, dennoch weniger Auswege übrig lässt, viel tiefer in die Einzelheiten des Lebens eindringt und die Seele selbst versklavt. Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist daher nicht genug; es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei der vorherrschenden Meinungen und Gefühle; gegen die Neigung der Gesellschaft, ihre eigenen Ideen und Handlungen als Lebensregeln allen, die hiervon abweichen, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen aufzunötigen, zu verhindern die Entwicklung und wenn möglich sogar die Bildung irgendeiner Individualität, die nicht mit ihrem Tun und Lassen übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eigenen Muster zu bilden. Es gibt eine Grenze, welche die Einmischung der Gesamtmeinung in die persönliche Unabhängigkeit berechtigterweise nicht überschreiten darf, und diese Grenze zu finden, sie gegen Angriffe zu schützen, ist für den gesunden Zustand der menschlichen Angelegenheiten ebenso unerlässlich wie der Schutz gegen politischen Despotismus. Obgleich nun aber diese Behauptung im Allgemeinen nicht leicht bestritten werden kann, so ist doch die praktische Frage, wo diese Grenze zu ziehen sei – wie persönliche Unabhängigkeit und gesellschaftliche Aussicht geeignet abzusondern wären – eine Sache, für die nahezu noch alles zu tun übrig bleibt. Alles, was irgendwen das Leben wertvoll macht, hängt von der Einschränkung der Betätigungen anderer Leute ab. Gewisse Lebensregeln müssen daher festgestellt werden, vor allem durch das Gesetz, und in manchen Dingen, die für ein gesetzliches Einschreiten nicht geeignet sind, durch die öffentliche Meinung. Was diese Regeln bestimmen sollen, ist die Hauptfrage für die menschlichen Angelegenheiten, eine Frage, die, wenn wir einige wenige der auffälligsten Fälle ausnehmen, am wenigsten ihrer Entscheidung näher gerückt ist. Nicht zwei Zeitalter und kaum zwei Länder sind hier gleicher Ansicht gewesen; und die Entscheidung des einen Zeitalters oder Landes dünkt den andern ganz verwunderlich. Dennoch fand das Volk irgendeines Zeitalters oder Landes nicht mehr Schwierigkeiten dabei, als wenn es einen Gegenstand beträfe, worüber die Menschheit stets übereingestimmt hätte. Regeln, die man selbst aufstellt, hält man für selbstverständlich und von selber gerechtfertigt. Diese fast allgemeine Illusion ist eines der Beispiele von der zauberischen Macht der Gewohnheit, die nicht nur, wie das Sprichwort sagt, zweite Natur ist, sondern auch fortwährend mit der ersten verwechselt wird. Die Wirkung der Gewohnheit, jede Außerachtlassung der Lebensregeln, welche die Gesellschaft sich selbst gegenseitig aufstellt, zu unterdrücken, ist hier um so vollständiger, weil der Gegenstand zu denjenigen gehört, bei welchen man es im Allgemeinen nicht für nötig hält, sich selbst oder andern dafür Gründe anzugeben. Die Leute sind gewohnt zu glauben und sind von manchen, die als Philosophen gelten wollen, in dem Glauben bestärkt worden, dass bei derartigen Dingen Gefühle mehr gelten als Vernunftgründe und diese sogar überflüssig machen. Der praktische Grundsatz, der sie bei ihren Ansichten über die Regelung der menschlichen Handlungsweise leitet, ist, dass jeder so handeln möge wie er und diejenigen, die mit ihm übereinstimmen zu handeln, geneigt sind. Tatsächlich gibt zwar niemand zu, dass der Maßstab seines Urteils sein eigenes Belieben bilde, aber eine Meinung über eine Handlungsweise, die nicht von Vernunftgründen unterstützt wird, kann nur als persönliche Vorliebe zählen; und wenn dafür als Grund auf die ähnliche Vorliebe anderer Leute hingewiesen wird, so ist das dann nur mehrerer Leute Vorliebe, statt die eines einzelnen. Dem gewöhnlichen Menschen ist nun seine dermaßen unterstützte Vorliebe nicht nur ein vollkommen ausreichender Grund, sondern auch der einzige, den er gewöhnlich für seine Meinungen über Moral, Geschmack, Gebührlichkeit hat, sofern diese nicht in seinem religiösen Bekenntnis ausdrücklich vorgeschrieben sind; sie sind selbst sein Leitfaden für die Auslegung dieser Vorschriften. Der Menschen Ansichten über das, was lobenswert oder tadelhaft ist, werden daher von all den verschiedenartigen Ursachen berührt, die ihre Wünsche·betreffs des Gehabens anderer beeinflussen, und die ebenso zahlreich sind wie die, welche ihre Wünsche hinsichtlich eines andern Gegenstandes bestimmen. Zuweilen ihre Vernunft – zuweilen wieder ihre Vorurteile und Aberglauben, oft ihre gesellschaftlichen Neigungen, nicht selten ihre ungesellschaftlichen, Neid oder Eifersucht, Anmaßung oder Hochmut; in den meisten Fällen aber ihre Wünsche und Befürchtungen für sich selbst, ihr berechtigtes oder unberechtigtes Eigeninteresse. Wo immer eine überragende Klasse vorhanden ist, wird sich ein großer Teil der Sittlichkeit des Landes nach deren Sonderinteressen und nach dem Bewusstsein ihrer Klassenüberlegenheit ausbilden. Die Moralität zwischen Spartanern und Heloten, zwischen Pflanzern und Negern, zwischen Fürsten und Untertanen, zwischen Edlen und Niedrigen, zwischen Mann und Weib ist größtenteils eine Schöpfung dieser Klasseninteressen und -gefühle; und die dermaßen erzeugten Empfindungen wirken dann wieder zurück auf die sittlichen Gefühle der Glieder der hervorragenden Klasse in ihren gegenseitigen Beziehungen. Wo anderseits wieder eine früher hervorragende Klasse ihren Vorzug eingebüßt hat oder wo dieser Vorzug nicht volkstümlich ist, trägt die vorherrschende sittliche Empfindung häufig das Zeichen einer ungeduldigen Abneigung gegen den Vorrang. Ein anderes großes entscheidendes Prinzip der Gesellschaftsregeln, sowohl im Tun wie im Unterlassen, aufgezwungen von Gesetz oder Meinung, ist die Unterwürfigkeit der Menschen gegen die Neigungen oder Abneigungen, welche sie bei ihren zeitlichen Gebietern oder bei ihren Göttern voraussetzen. Diese Unterwürfigkeit ist, wenn auch wesentlich selbstsüchtig, doch nicht heuchlerisch. Sie lässt vollkommen echte Empfindungen des Abscheus entstehen; sie ließ Zauberer und Ketzer verbrennen. Unter so vielen niedrigeren Einflüssen haben natürlich die allgemeinen und offenkundigen Interessen der Gesellschaft auf die Richtung der sittlichen Gefühle einen nicht geringen Einfluss, weniger jedoch aus Vernunftgründen und um ihrer selbst willen, denn als Folge der Sympathien und Antipathien, die hieraus erwachsen; und Sympathien und Antipathien, die mit den Interessen der Gesellschaft wenig oder gar nichts zu tun haben, haben sich mit ebenso großer Kraft bei der Feststellung der Sittengesetze fühlbar gemacht.

      Die Neigungen und Abneigungen der Gesellschaft oder irgendeines mächtigen Teiles derselben, sind daher die Hauptsache, die praktisch die Regeln zur allgemeinen Beachtung gegeben hat, die unter Strafe des Gesetzes oder der öffentlichen Meinung stehen. Im Allgemeinen haben diejenigen, die im Denken und Fühlen der Gesellschaft voraus waren, diesen Zustand der Dinge im Prinzip unangefochten gelassen, wie sehr sie auch mit manchen der Einzelheiten in Konflikt gekommen sein mögen. Sie haben sich weit mehr mit der Untersuchung beschäftigt, welchen Dingen die Gesellschaft geneigt oder abgeneigt ist, als sich die Frage vorgelegt, ob diese Neigungen oder Abneigungen dem Einzelwesen zum Gesetz werden sollte. Sie zogen es lieber vor, bestrebt zu sein, die Gefühle der Menschheit in denjenigen Punkten abzuändern, in welchen sie selbstketzerisch dachten, als zur Verteidigung der Freiheit mit den Ketzern im Allgemeinen gemeinschaftliche Sache zu machen. Der einzige Fall, wo dieser höhere Standpunkt nicht nur von einzelnen grundsätzlich angenommen und beharrlich behauptet wurde, ist der des religiösen Glaubens: ein nach mehreren Richtungen hin lehrreicher Fall, der ein höchst treffendes Beispiel von der Fehlbarkeit dessen bildet, was sittliches Gefühl genannt wird. Das Odium theologicum eines aufrichtigen Glaubenseiferers ist eines der entschiedensten Fälle von Moralgefühl. Diejenigen, die zuerst das Joch der Kirche brachen, die sich selbst »universell« (katholisch) nennt, waren im Allgemeinen ebenso wenig wie diese Kirche selbst geneigt, eine Abweichung der religiösen Meinung zu gestatten. Als aber die Hitze des Kampfes vorüber war, ohne dass eine der Parteien einen vollständigen Sieg erfochten hätte und jede Kirche oder Sekte ihre Hoffnungen darauf beschränken musste, das bereits eingenommene Gebiet zu behaupten, fanden sich die Minderheiten genötigt, weil keine Aussicht vorhanden war, dass sie zu Mehrheiten werden könnten, diejenigen, die sie nicht bekehren