Skelette von alten Neandertalerindividuen weisen Spuren von Krankheiten und anderen körperlichen Gebrechen auf. Bei diesen muss davon ausgegangen werden, dass sie auf die Hilfe ihrer Gruppe angewiesen waren, die sich um sie kümmerte. Es gibt Knochen mit verheilten Frakturen, und es sind Unterkiefer von Neandertalern mit nur wenigen Zähnen bekannt. Unter derartigen Umständen waren die geschwächten Neandertaler vom Wohlwollen ihrer Angehörigen abhängig und mussten von diesen versorgt und gepflegt werden, was für einen hohen sozialen Zusammenhang der Gruppen spricht.
Religion und Bestattung
Eine viel diskutierte, aber bis heute nicht klar entschiedene Frage ist, ob der Neandertaler im Laufe seiner Entwicklung bereits eine Religion und damit einen Glauben an ein Weiterleben im Jenseits entwickelt hat. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu sehen, ob der Neandertaler die verstorbenen Mitglieder seiner Art in Gräbern bestattet hat oder ob die Toten einfach liegengelassen oder regelrecht »entsorgt« wurden.21 Durch die zahlreicher werdenden Funde von mehr oder weniger vollständigen Skeletten von Neandertalern setzt sich immer mehr die Vorstellung durch, dass auch die Neandertaler und nicht nur die modernen Menschen des Paläolithikums ihre Toten bestatteten. Vor allem die Funde aus La Chapelle-aux-Saints und La Ferrassie belegen die Existenz von Neandertalergräbern. Besonders die zahlreichen völlig erhaltenen Skelette, deren Reste noch im ursprünglichen Verband gefunden wurden, lassen darauf schließen, dass es sich hier um geregelte Bestattungen gehandelt haben dürfte.
Manche der Gräber wurden mit rotem Ocker besprengt, einige Skelette hatten eine Unterlage für den Kopf, wie der Junge aus Le Moustiér mit einem Polster aus Feuersteinklingen. Es erscheint in heutiger Sicht als unwahrscheinlich, dass in Fundstellen wie La Ferrassie, wo sieben Bestattungen von Neandertalern entdeckt wurden, darunter vier Kinder und Neugeborene und sogar ein Fötus, ihre teilweise fragilen Skelettreste nur durch zufällige natürliche Sedimentation konserviert wurden. Die Existenz von weiteren Kinderskeletten aus Dederiyeh in Syrien, die zu Individuen gehörten, die zum Teil nur ein geringes Lebensalter von wenigen Monaten oder Jahren erreicht haben, zeigen, dass Kinder wie Erwachsene gleichermaßen behandelt wurden. Immerhin machen die Kinderbestattungen etwa 40 Prozent der gesamten Anzahl mittelpaläolithischer Bestattungen, im Gegensatz zu denen des Jungpaläolithikums mit nur 27 Prozent, aus.
Unklar ist, ob die Neandertaler ihre Toten mit einem Ritual bestatteten und ob es rudimentäre Grabbeigaben gegeben hat. Funde von kleinen Perlen von Muscheln und von Blütenpollen in Neandertalergräbern des Nahen Ostens lassen annehmen, dass es ein Totenritual und Beigaben gegeben hat, was den Gedanken nahelegt, dass sich schon der Neandertaler die Frage nach einer Existenz des Verstorbenen nach dem Tode gestellt haben könnte. Die Anlage der Gräber zeigt wenige Gemeinsamkeiten, so wechseln die Orientierung, die Lage der Toten im Grab und ihre Ausstattung stark. Die Körper wurden meist in angehockter Beinstellung in Seiten- oder Rückenlage niedergelegt, dabei wurde eine sehr variable Ost-West-Orientierung bevorzugt. Weder gestreckte Totenhaltungen noch eine Orientierung in der Nord-Süd-Achse wurden bislang dokumentiert. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass alle bekannten Bestattungen von Neandertalern ausschließlich in Höhlen oder unter Abris vorkommen. Im Gegensatz zu den späteren Bestattungen des jungpaläolithischen Gravettiens ist kein einziger Fall einer Bestattung in einer Freilandstation bekannt.
In Europa beschränken sich die »Neandertalergräber« im Wesentlichen auf eine Region in Frankreich und hier vor allem auf die im Süden gelegene Dordogne (z. B. La Ferrassie, La Chapelle-aux-Saints22, Le Moustier und Le Régourdou). Bei anderen Fundorten wie der Feldhofer Grotte kann eine Bestattung zwar angenommen, aber nicht bewiesen werden.
Geht man davon aus, dass der Anlage von Gräbern durch den Neandertaler auch eine Vorstellung von Religion zu Grunde liegt, so ist die Frage, wie eine solche ausgesehen haben könnte. Eine der frühen Theorien ging von der oftmaligen Vergesellschaftung von Neandertalerresten mit Knochen von Höhlenbären aus (Drachenloch-Höhle in der Schweiz) und konstruierte einen Kult des Höhlenbären durch den Neandertaler. Darauf hindeuten könnte auch der Fund von Régourdou in der Dordogne, eine rechteckige Grube, in der die Schädel von 20 Höhlenbären lagen und in deren unmittelbarer Nähe sich das unvollständige Skelett eines Höhlenbären und das vollständige Skelett eines Neandertalers fanden.
Sprache
Bisher gibt es nur einen einzigen skelettieren Fund, der darauf hindeuten könnte, dass der Neandertaler die Fähigkeit einer entwickelten Sprache besessen haben könnte. Es handelt sich dabei um den Fund eines Zungenbeines aus der Kebara-Höhle in Israel, der 1983 im komplett erhaltenen Grab eines vor 60.000 Jahren verstorbenen Neandertalers getätigt werden konnte. Das Zungenbein beweist, dass der Neandertaler all jene Bänder und Muskel besessen haben muss, die zur Fähigkeit des Sprechens notwendig sind. Wieweit diese Sprache entwickelt war, lässt sich allerdings aus der Anatomie des Zungenbeines nicht sagen.23
Neue Hinweise auf die Sprachfähigkeit des Neandertalers ergeben sich aus seinem Genom, das in den letzten Jahren weitgehend untersucht werden konnte.24 So besaß er das Sprachgen FOXB2 (Forkhead Box2), das bisher einzig bekannte Sprachgen, das den modernen Menschen befähigt zu sprechen. Unklar ist, wie komplex die Sprache des Neandertalers war. Zahlreiche Forscher sind der Ansicht, dass Neandertaler zwar Sprachvermögen hatten, aber in ihren sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten den modernen Menschen, die ihnen nachfolgten, deutlich unterlegen waren. Dagegen spricht, dass sich der Neandertaler in Europa in einer extrem harten Umwelt behaupten musste, sodass eine fortgeschrittene Sprachfähigkeit zur Organisation der Gruppe und besonders bei der Jagd notwendig gewesen wäre, da er sonst als Spezies nicht so lange erfolgreich überleben hätte können.
Eine weitere Frage ist, ob der Neandertaler schon über die Anfänge von Kunstempfinden verfügte oder ob die Erfindung der Kunst alleine dem modernen Menschen zuzuschreiben ist. Funde dazu stammen aus letzter Zeit aus der Höhle von Aviones im südöstlichen Spanien in der Nähe des Mittelmeeres. Hier fanden sich auf 50.000 v. Chr. datierte Muscheln, die mit roten und gelben Farbpigmenten von Hämatit und Pyrit verziert waren und die gelocht waren, sodass man sie an einer Schnur um den Hals tragen konnte. An einer Muschel fanden sich Reste von Goethit, der aus einem 60 Kilometer entfernten Fundort stammte und darauf hindeutet, dass solche Muscheln, vielleicht als Schmuck, über längere Strecken vom Neandertaler mit sich geführt wurden.25
Funde von Zeichnungen aus der Höhle von Nerja in Südspanien deuten darauf hin, dass auch schon der Neandertaler diese Kunst beherrschte, wenngleich es sich bei diesen Darstellungen von sechs Seehunden um die einzigen bisher bekannten Höhlenmalereien des Neandertalers handelt.26
Aus den verschiedensten Fundorten in Europa, die mit Neandertalerfunden vergesellschaftet sind, stammen Knochen und Steine mit Schnittlinien-Verzierungen, Reste von Farbpigmenten bis hin zum Rest einer möglichen Knochenflöte. Da viele der Objekte nicht sicher in die Zeit des Neandertalers datiert werden können, bleibt die Zuschreibung fraglich. Allerdings legt die Fülle der Funde nahe, dass Neandertaler ein frühes Dekor- und Kunstempfinden in Form von Symbolen hatten. Man kann daher heute davon ausgehen, dass Neandertaler abstrakte Gedanken formulieren konnten. Sie verwendeten Pigmente, sammelten kuriose Fossilien und schmückten Knochen mit Perforationen, Ritzungen oder Liniengravuren. Aus diesen und weiteren Befunden kann man das Bild eines fürsorglichen, sozialen und körperbewussten Menschen ableiten. Als der moderne Mensch in Europa eintraf, wurde das symbolische Inventar beider Menschengattungen umfangreicher, Statuetten und Darstellungen von Tieren lassen sich beim Neandertaler dennoch nicht nachweisen. Die kognitive Befähigung zum abstrakten Denken war offenbar beim Neandertaler vorhanden, sie wurde allerdings nicht im gleichen Maße genutzt wie beim Homo sapiens.
Das Ende der Neandertaler
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