Es braucht nicht ausdrücklich erwähnt zu werden, daß unser Werk, so wie es vorliegt, nicht aus der Hand des Liä Dsï hervorging. Das wird schon endgültig widerlegt durch die Bezeichnung des Liä Yü Kou als »der Meister«. Zudem ist im ganzen Buch auch nirgends eine Andeutung davon enthalten, daß es von Liä Dsï stamme. Es ist ein Werk seiner Schule, das die Lehre, wie er und andere Meister der Vergangenheit sie verkündigt, in freier Weise aufgezeichnet hat. Die von chinesischer und europäischer Seite aufgestellte Vermutung, daß es eine späte Fälschung sei, hat nicht genügende Begründung in den Tatsachen. Gewiß finden sich eine Reihe von Abschnitten, die auch in den Schriften, die unter dem Namen des Philosophen Dschuang Dsï (um 330 v. Chr.) gehen, sich mehr oder weniger wörtlich wiederfinden, ebenso wie manche Stücke auch in den Werken des Huai Nan Dsï (gest. 122 v. Chr.), sowie in den Frühlings- und Herbstannalen, die unter der Ägide des Lü Bu We (gest. 237 v. Chr.) gesammelt wurden (Lü Schï Tschun Tsiu), wieder vorkommen. In den Erklärungen sind die betreffenden Parallelen jeweils beigefügt. Huai Nan Dsï kann hier außer Betracht bleiben, ebenso machen die Frühlings- und Herbstannalen des Lü Bu We keine Schwierigkeiten, da diese beiden Werke eingestandenermaßen Kompilationen überlieferten Stoffes sind. Und eine Vergleichung des Textes ergibt, daß Liä Dsï in Fällen der Verschiedenheit sicher die ursprüngliche Fassung hat. Dasselbe ist aber auch Dschuang Dsï gegenüber der Fall. Stilistische Härten sind dort überall geglättet, und der Zusammenhang, wo es not tat, straffer organisiert. Eine sorgfältige Vergleichung ergibt, daß der Text bei Dschuang Dsï sich ohne weiteres aus Liä Dsï ableiten läßt, nicht aber umgekehrt. Dieser Sachverhalt tut Dschuang Dsï durchaus keinen Eintrag, denn er selbst sagt von seinen Werken (XXVII, 1):
»Von meinen Sätzen sind neun unter zehn allegorisch, von meinen Gleichnissen stammen sieben unter zehn von geschätzten Vorgängern«. Es ist gar nicht abzusehen, warum Liä Dsï nicht auch zu diesen Vorgängern gehören soll.
Die inneren Anzeichen weisen in dieselbe Richtung; die Sprache ist altertümlich, wie Grube überzeugend nachgewiesen hat; die historischen Persönlichkeiten, die in dem Buche erwähnt werden, führen, abgesehen von einer Stelle, nicht unter das Jahr 390 herab. Wir werden daher nicht fehlgehen, wenn wir die Zeit um 350 als Abfassungszeit annehmen, wobei zugegeben werden muß, das spätere Erweiterungen sich eingeschlichen haben, wie denn auch der Text an verschiedenen Stellen keineswegs intakt ist.
Liä Dsï wurde wenig kommentiert. Der erste Kommentar stammt von Dschang Dschan aus der Dsin-Dynastie 265–420 n. Chr. Erst in der Tangzeit begann man ihn zu schätzen, und unter dem Kaiser Hüan Dsung 713–756 wird ihm der Titel »Tschung Hü Dschen Ging« (Wahres Buch vom quellenden Urgrund) beigelegt, dem dann später noch der Zusatz Dschï De (höchstes LEBEN) zugefügt wurde. Aus jener Zeit stammt auch der Kommentar des Lu Dschung Yüan, der lange Zeit verloren war und erst 1804 teilweise in einem Taoistenkloster in Nanking wieder aufgefunden und neu herausgegeben wurde. Der vorliegenden Übersetzung liegt ein hervorragend schöner Faksimiledruck nach einem Exemplar aus der Sung-Dynastie sowie die eben genannte Ausgabe von Lu Dschung Yüan aus dem Jahre 1804 zugrunde, die in einem Buchladen in Peking aufzutreiben mir gelang. Außerdem benutzte ich noch eine sehr gute neue Ausgabe aus dem Jahr 1877.
Im Unterschied vom Taoteking, in dem kein einziger Name erwähnt ist, ist Liä Dsï voll von historischen Anspielungen. Weise der Vorzeit werden zitiert und zum Teil wörtlich angeführt. So finden sich verschiedene mehr oder weniger getreue Zitate aus dem Taoteking. Aber auch weiter hinauf reichen die angeführten Quellen des Buches. Ober den sagenumwobenen König Mu von Dschou bringt es ausführliche Nachrichten, die mit einem Buch über ihn, das lange Zeit verloren war und erst Jahrhunderte später wieder auftauchte1, ziemlich genau übereinstimmen. Weiterhin finden sich verschiedene Zitate von Yü Hiung, der angeblich der Lehrer des Begründers der Dschou-Dynastie, des Königs Wen, um 1200 v. Chr., gewesen sein soll. Mehrere Abschnitte werden als Äußerungen eines Weisen noch älterer Zeit, des Gi von Hia, der zur Zeit des Königs Tang, des Begründers der Schang-Dynastie, um 1750 v. Chr. gelebt haben soll, angeführt. Auch über die Helden der konfuzianischen Legende: Yau, Schun und Yü finden sich Nachrichten, die eine selbständige Überlieferung voraussetzen. Vor allen aber wird der Herr der gelben Erde (Huang Di) häufig erwähnt, den wir, falls wir überhaupt noch Zeitangaben machen wollen, ins Jahr 2700 v. Chr. verlegen müssen. Ja noch weiter hinauf wird uns der Blick geöffnet in die graue Vorzeit der Göttersagen, da der schlangenschwänzige Fu Hi, Nü Wa und der göttliche Landmann Schen Nung auf Erden weilten. Da nun die Quellen fehlen, ist es uns versagt, irgend etwas darüber auszumachen, wie hoch die Traditionen hinaufgehen, die Liä Dsï zur Verfügung standen. Eine Äußerung, die er dem Herrn der gelben Erde zuschreibt, steht im Taoteking. Anderes wiederum suchen wir vergeblich. Doch sind wir immerhin in der Lage, uns eine ungefähre Vorstellung davon zu machen, welcher Art das Material war, das Liä Dsï zu Gebote stand. Ein Teil dieser alten Überlieferungen ist in den klassischen Büchern der konfuzianischen Schule, dem Buch der Wandlungen und dem Buch der Urkunden, enthalten. Einen anderen Teil haben wir im Taoteking vor uns. Noch eine andere Spruchsammlung gibt es, die in taoistischen Kreisen überliefert wird und der ein sehr hohes Alter zugeschrieben wird: der Yin Fu Ging, das Buch der geheimen Ergänzungen. Aus welcher Zeit es stammt, läßt sich nicht sagen, doch ist es höchst wahrscheinlich, ja beinahe sicher, daß es dem Verfasser des vorliegenden Werkes zur Verfügung gestanden hat. Es enthält im ganzen 444 Zeichen und ist eine Sammlung von Aphorismen im dunklen Stil des Altertums, wohl noch älter als der Taoteking. Sein Titel will besagen, daß es den Schlüssel gibt zum Verständnis des sichtbaren Weltgeschehens, indem es die verborgenen Ergänzungen aufzeigt, die zur sichtbaren Welt hinzugenommen werden müssen, um ihr den rechten Sinn abzugewinnen. Es sind für jene alten Zeiten zum Teil Gedanken von unerhörter Kühnheit darin enthalten, die es begreiflich machen, wie sowohl ein Liä Dsï als auch ein Yang Dschu ihre Lehren auf diesen Voraussetzungen aufbauen konnten. Die Übersetzung dieser Spruchsammlung nach einem handschriftlichen Exemplar, das in meinem Besitz ist, lautet folgendermaßen:
1.Des Himmels SINN erschauen,
Des Himmels Wandel ergreifen
Ist das Höchste.
2.Der Himmel hat fünf Gewalttäter2;
Wer sie erblickt, wird blühen.
Die fünf Gewalttäter sind im Ich3;
Wer sie wirken läßt im Himmel,
Bekommt das Weltall in die Hand,
Und die Natur wird aus dem Ich geboren.
3.Des Himmels innerstes Wesen ist der Mensch;
Des Menschen Herz ist das Triebwerk.
Des Himmels SINN wird festgestellt
Durch die Bestimmung des Menschen.
4.Bringt der Himmel das Triebwerk des Tötens in Gang,
Bewegen sich die Sterne, und die Himmelsbilder wandeln sich;
Bringt die Erde das Triebwerk des Tötens in Gang,
Kommen Drachen und Schlangen aufs trockne Land;
Bringt der Mensch das Triebwerk des Tötens in Gang,
Wird Himmel und Erde verkehrt und umgestürzt;
Wirken Himmel und Mensch zusammen,
werden der ganzen Natur Grundlagen bestimmt.
5.Das innere Leben hat Klugheit und Torheit,
Man kann sie ducken und bergen.
Der neun Körperöffnungen Sünden
Beruhen auf den drei wichtigsten4;
Man kann sie erregen und stillen.
6.Feuer entsteht im Holz:
Das Wehe, in Gang gebracht, wird sicher überwältigen.
Falschheit entsteht im Staat:
Die Zeit, in Aufruhr gekommen, wird sicher zerstören.
Wer das erkennt, wer das in Ordnung bringt,
Der