Schreiber der Asiaten
Im historischen Kontext betrachtet, musste es einen Grund dafür geben, dass diese Zeichen gerade in dieser wüsten Gegend aufgefunden worden waren. Es ist bekannt, dass Serabit el-Khadem in antiken Zeiten, zwischen 2200 und 1200 v. Chr., eine Stätte des Türkis- und Malachitbergbaus und ein Ort mit zahlreichen Porphyrsteinbrüchen war. Ägyptische Händler waren zuhauf mit dem Abbau des Halbedelsteins beschäftigt, allerdings unter Hilfeleistung von „Gastarbeitern“ und Sklaven aus der nördlich von Sinai anschließenden Levante. Die meisten dieser Fremden – Bergarbeiter, Soldaten, Händler und wohl auch Konkubinen – sprachen einen semitischen Dialekt, und es sollte sich letztlich herausstellen, dass diese geheimnisvollen Zeichen semitischen Ursprungs waren. Wodurch lässt sich diese Annahme untermauern? Einfach durch den Hinweis auf die Menge an „Asiaten“, also fremden Schreibern, die notwendig waren, um die Verwaltung und Organisation all dieser Menschen sicherzustellen. Ein in Berlin aufbewahrter Papyrus lässt deutlich die Worte „Schreiber der Asiaten“ erkennen. Nun, die Ägypter selbst – das „Volk“, wie sie sich selbstbewusst nannten – waren sich für mindere Schreibarbeiten einfach zu gut. Es war zudem verboten, sich mit „Asiaten“ an einen Tisch zu setzen, was auch in der Josefsgeschichte der Bibel (Gen 37–50) belegt ist. Und so dürften begabte Fremde aus der Not heraus die vereinfachte, kursive Hieroglyphenschrift, die zirka 600 hieratischen Zeichen, pflichtbewusst übernommen und für ihre Verwaltungs- und Handelszwecke adaptiert haben. Um die vielen semitischen Wörter und Namen zu schreiben, war zweifellos einige Übung in der Verwendung ägyptischer Einkonsonanten-Silbenzeichen nötig. Und es lag wohl nahe, diese Zeichen so weit umzufunktionieren, dass der Schreibvorgang möglichst erträglich und effizient geschehen konnte. Eine zufällige Parallele zwischen dem Ägyptischen und dem Semitischen betreffend die Namengebung der Zeichen kam den Schreibern zu Hilfe: Beide Sprachen kannten nur Wörter, die mit Konsonanten beginnen. Daher konnten die Schreiber die passenden ägyptischen Hieroglyphen aus dem riesigen Zeichenschatz herauspicken und zu ihren eigenen „Buchstaben“ machen. Das akrofonische Prinzip, demzufolge sie Zeichen wählten, deren semitische Namen die passenden Anfangskonsonanten lieferten, sollte vor allem beim Memorieren und Lernen helfen. Das „Wie“ der Entstehung des Alphabets können wir also heute erahnen, das „Wer“, also die Frage nach dem Genie, dem bei seiner mühevollen Arbeit die Idee zur vollen Konsonantenschrift kam, bleibt jedoch im Dunkeln der Geschichte verborgen. Doch die entscheidende Sternstunde der Menschheit hatte geschlagen!
Das erste Wort
Aber nun zurück nach Serabit el-Khadem. Inmitten Hunderter von konventionellen ägyptischen Hieroglyphen sowie Überresten eines der Göttin Hathor geweihten Tempels – das sollte sich später als entscheidend erweisen – standen da diese „proto-sinaitischen“ Spuren, unbeholfen in Stein geritzt, stumme Zeitzeugen des menschlichen Genies. Offensichtlich bestand auch inhaltlich ein Zusammenhang mit den ägyptischen Hieroglyphen, waren doch einige Zeichen neben ägyptischen Gravuren auf Steinfiguren erkennbar. Als Schlüssel zum endgültigen Nachweis, dass hier ein Alphabet benutzt wurde, diente eine unscheinbare Sphinx-Statue, die aufgrund ihrer künstlerischen Ausgestaltung zwischen 1800 v.Chr. und 1500 v. Chr. datiert werden muss. Heute sehen viele Archäologen das ältere Datum als das wahrscheinlichere an, doch fehlen eindeutige weitere Belege.
Sir Alan Gardiner (1879-1963), Ägyptologe
Ein Jahrzehnt konnte niemand diese uralten Zeichen wirklich bewerten, bis dann im Jahr 1916 der britische Ägyptologe Sir Alan Gardiner (1879-1963) einen brillanten, aufsehenerregenden Artikel publizierte: The Egyptian Origin of the Semitic Alphabet. Gardiners Schlussfolgerungen kurz zusammengefasst: Es handelt sich um ein Alphabet; jedes Zeichen steht für einen Buchstaben; als Vorlage dienten ägyptische Hieroglyphen; richtig ausgesprochen, werden alte semitische Wörter erkennbar. Und dann folgte auch gleich Gardiners Beweis: die Entzifferung eines einzigen Wortes. Mehrere Dutzend Zeichen einer „Viererkette“ waren auf diesen Inschriften auszumachen. Gardiner nannte diese box (Haus), eye (Auge), cane (Stock) und cross (Kreuz). Und einmal fanden sich diese auch auf der Sphinx-Statue, zusammen mit einer auf der Schulter eingeritzten, leicht lesbaren hieroglyphischen Inschrift: „Geliebte Hathor, Dame des Türkises.“ Gardiner hatte nun einen Geistesblitz. Was wäre, wenn die beiden Schriftzüge den gleichen Inhalt ausdrückten? Elektrisiert ging er an die Überprüfung dieser Annahme. Und in der Tat konnte er die vier Zeichen Haus, Auge, Stock und Kreuz (B-Kehlkopflaut-L-T) als eine Darstellung des semitischen Wortes „baalat“, Dame oder Göttin, entziffern. Diese mit Ehrfurcht eingeritzte weibliche Namensform des Gottes Baal konnte im semitischen Kulturkreis für den Titel oder den Namen einer Göttin stehen. Die Sphinx-Statue musste, so schien es, von den Menschen, die die Schriftzüge geschaffen hatten, dem Tempel der Göttin Hathor geweiht worden sein, vermutlich als Dank für ihren Schutz in den gefährlichen Türkisminen. Das älteste Wort, das bislang je als alphabetisch entziffert werden konnte, ist demnach „Dame“ oder „Göttin“, mit den drei Buchstaben „b“, „l“ und „t“. Wie für semitische Sprachen üblich, wurden nur Konsonanten geschrieben; das vierte Zeichen, das „Auge“, ein für uns kaum hörbarer gutturaler Kehlkopfverschluss, blieb bei der Transliteration meist einfach unberücksichtigt. Manche Linguisten geben es aber mit einem ‘ wieder: ba’alat. Mit seiner 1927 veröffentlichten ägyptischen Grammatik, die neben einem Wörterbuchteil auch die berühmte Gardiner‘s Sign List (Gardiner-Liste), eine Zusammenstellung der mittelägyptischen Hieroglyphen, enthält, legte dieser großartige Wissenschaftler den Grundstein zum späteren Ritterschlag (1948). Zudem wurden bald Alan-Gardiner-Ehrentitel der prestigeträchtigen Universitäten Durham, Oxford und Cambridge verliehen.
Baalat – das älteste bekannte, von Gardiner entzifferte Wort
Nun zur brennenden Frage, die sich schon Gardiner stellte: Konnte das erste Alphabet auf der Sinai-Halbinsel entstanden sein? Die Spekulation ist ohne Zweifel reizvoll, doch die 27 Zeichen auf den dreißig Inschriften zeigen bereits einen gewissen Reifegrad. Daher sehen namhafte Linguisten diese Inschriften als Frucht einer bereits mindestens hundert bis zweihundert Jahre langen Entwicklung an. Unsere Buchstaben könnten also in der Tat nahe dem Beginn des zweiten Jahrtausends vor Christus auf Sandstein geschrieben worden sein – so interpretierte das zumindest Gardiner. Doch vielleicht geschah dieses „Wunder“ nicht unbedingt auf Sinai.
Die frühe Keilschrift
Die archäologischen Grabungen im Orient blieben nicht auf das frühe 20. Jahrhundert beschränkt. 1929 machten weitere überraschende Funde Schlagzeilen, diesmal in der kanaanäischen Stadt Ugarit, nahe dem nördlichen Abschnitt der Mittelmeerküste des heutigen Syrien. Mehr als tausend Inschriften mit geometrischen Ausformungen (Grundelemente: waagrechte, senkrechte und schräge Keile), von Sprachforschern als Keilschrift bezeichnet, zeugten von einem weiteren möglichen Geburtsort des Alphabets. Diese Formen entstanden offensichtlich dadurch, dass mit Schreibgriffeln Kerben in den noch weichen Beschreibstoff Ton geritzt wurden. 1300 bis 1200 v.Chr. mussten diese keilförmigen Zeichen entstanden sein – so weit ist die Datierung sicher. Handelskorrespondenz, Steuerbücher und zahllose behördliche Notizen, jeweils mit dreißig Zeichen geschrieben, sind der Ausdruck der wirtschaftlichen Zentralstellung dieser Stadt. Mit nur 27 „Buchstaben“ wurden dagegen religiöse Texte geschrieben, die, wie sich später herausstellte, sowohl in der Wortwahl wie auch in den Geschichten eine große Ähnlichkeit mit denen des Alten Testaments zeigen. Haben wir hierin vielleicht sogar die frühesten biblischen Texte zu sehen? Zu verneinen ist diese Frage keinesfalls, klare Beweise sind allerdings auch nur schwer zu finden. Ein nahe der türkischen Küste gehobenes Schiffswrack brachte zudem die damals über Ugarit gehende Handelsware zutage: Werkzeuge aller Art, Kupfer und Zinn, Glasbarren, Fayence- und Bernsteinperlen, Schmuck, vor allem