Wachtmeister Studer. Friedrich Glauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Glauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843800075
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      Studer schien in sein Notizbuch zu starren, aber seine Augen waren beweglich. Er sah die Veränderung in den Gesichtszügen des Schlumpf und unterbrach die Spannung, indem er harmlos fragte:

      »Wie viel hast du für das Nachtessen bezahlt?«

      »Eins fünfzig. Zu Mittag hab ich immer beim Ellenberger eine Suppe gegessen und Brot und Käs mitgebracht. Der Ellenberger hat nur fünfzig Rappen für den Teller Suppe verlangt, und z’Immis hat er umsonst gegeben, denn der Ellenberger war immer anständig mit uns, wir haben ihn gern gehabt, er hat so kohlig dahergeredet, er sieht aus, wie ein uralter Mann, hat keine Zähne mehr, aber …« dies alles in einem Atemzug, als ob der Redende vor einer Unterbrechung Angst hätte. Doch Studer wollte diesmal auf das Geschwätz nicht eingehen.

      »Was hast du am Mittwochabend zwischen sieben und acht Uhr gemacht?« fragte er streng. Er hielt den Bleistift zwischen den mageren Fingern und blickte nicht auf.

      »Zwischen sechs und sieben?« Schlumpf atmete schwer.

      »Nein, zwischen sieben und acht. Um sieben warst du mit dem Nachtessen fertig, um acht hast du im ›Bären‹ eine Hunderternote gewechselt. Wer hat dir die dreihundert Franken gegeben?«

      Und Studer blickte den Burschen fest an. Schlumpf drehte den Kopf zur Seite, plötzlich warf er sich herum, drückte die Augen in die Ellbogenbeuge. Sein Körper zitterte.

      Studer wartete. Er war nicht unzufrieden. Mit kleinen Buchstaben schrieb er in sein Notizbuch: ›Sonja Witschi‹ und malte hinter die Worte ein großes Fragezeichen. Dann wurde seine Stimme weich, als er sagte:

      »Schlumpfli, wir werden die Sache schon einrenken. Ich hab’ dich extra nicht gefragt, was du am Dienstagabend, also am Abend vor dem Mord, getan hast. Da hättest du mich doch nur angelogen. Und dann steht es sicher in den Akten, und ich kann auch deine Wirtin fragen … Aber sag mir noch: Was ist die Sonja für ein Meitschi? Ist sie das einzige Kind?«

      Schlumpfs Kopf fuhr in die Höhe.

      »Ein Bruder ist noch da. Der Armin!«

      »Und den Armin magst du nicht?«

      Dem habe er einmal zünftig auf den Gring gegeben, sagte Schlumpf und zeigte die Zähne wie ein knurrender Hund.

      »Der Armin hat dir die Schwester nicht gönnen mögen?«

      »Ja; und mit dem Vater hat er auch immer Krach gehabt. Der Witschi hat sich oft genug über ihn beklagt …«

      »Soso … Und die Mutter?«

      »Die Alte hat immer Romane gelesen …« (›die Alte‹, sagte der Bursche respektlos). »Sie ist mit dem Gemeindepräsidenten Aeschbacher verwandt, und der hat ihr den Bahnhofkiosk in Gerzenstein verschafft. Dort ist sie immer gehockt und hat gelesen, während der Vater hausiert hat … Nicht gerade hausiert. Er ist mit einem Zehnderli3 herumgefahren, als Reisender für Bodenwichse, Kaffee … Und das Zehnderli hat man ja auch gefunden, ganz in der Nähe, es stand an der Straße …«

      »Und wo ist der alte Witschi gelegen?«

      »Hundert Meter davon, im Wald, hat der Cottereau erzählt …«

      Studer zeichnete Männlein in sein Notizbuch. Er war plötzlich weit weg. Er war in dem Krachen im Oberaargau, wo er den Burschen verhaftet hatte. Die Mutter hatte ihm aufgemacht. Eine merkwürdige Frau, diese Mutter des Schlumpf! Sie war gar nicht erstaunt gewesen. Sie hatte nur gefragt: »Aber er darf noch z’Morgen essen?«.

      Ein kleines Mädchen in Gerzenstein, eine alte Mutter im Oberaargau … und zwischen beiden der Bursche Schlumpf, angeklagt des Mordes …

      Es kam ganz darauf an, was für ein Untersuchungsrichter den Fall übernehmen würde … Man müsste mit dem Mann reden können. Vielleicht …

      Schritte kamen näher. Der Wärter Liechti erschien in der Tür, und sein rotes Gesicht glänzte boshaft.

      »Wachtmeister, der Herr Untersuchungsrichter will Euch sprechen.«

      Und Liechti grinste unverschämt. Es war nicht schwer zu erraten, was das Grinsen zu bedeuten hatte. Ein Fahnder hatte seine Kompetenzen überschritten und wurde eingeladen, den fälligen Rüffel in Empfang zu nehmen …

      »Leb wohl, Schlumpfli!« sagte Studer. »Mach keine Dummheiten mehr. Soll ich die Sonja grüßen, wenn ich sie seh’? Ja? Also; ich komm dich dann vielleicht einmal besuchen. Leb wohl!«

      Und während Studer durch die langen Gänge des Schlosses schritt, konnte er den Blick nicht los werden und den Blick nicht deuten, mit dem ihm Schlumpf nachgeblickt hatte. Erstaunen lag darin, jawohl, aber hockte nicht auch eine trostlose Verzweiflung auf dem Grunde?

      »Ihr seid …« (Räuspern.) »Ihr seid der Wachtmeister Studer?«

      »Ja.«

      »Nehmt Platz.«

      Der Untersuchungsrichter war klein, mager, gelb. Sein Rock war über den Achseln gepolstert und von lilabrauner Farbe. Zu einem weißen, seidenen Hemd trug er eine kornblumenblaue Krawatte. In den dicken Siegelring war ein Wappen eingraviert – der Ring schien übrigens alt.

      »Wachtmeister Studer, ich möchte Euch sehr höflich fragen, was Ihr Euch eigentlich vorstellt. Wie kommt Ihr dazu, Euch eigenmächtig – ich wiederhole: eigenmächtig! in einen Fall einzumischen, der …«

      Der Untersuchungsrichter stockte und wusste selbst nicht weshalb. Da saß vor ihm ein einfacher Fahnder, ein älterer Mann, an dem nichts Auffälliges war: Hemd mit weichem Kragen, grauer Anzug, der ein wenig aus der Form geraten war, weil der Körper, der darin steckte, dick war. Der Mann hatte ein bleiches, mageres Gesicht, der Schnurrbart bedeckte den Mund, so dass man nicht recht wusste, lächelte der Mann oder war er ernst. Dieser Fahnder also hockte auf seinem Stuhl, die Schenkel gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet … Der Untersuchungsrichter wusste selbst nicht, warum er plötzlich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ überging.

      »Sie müssen begreifen, Wachtmeister, es scheint mir, als hätten Sie Ihre Kompetenzen überschritten …« Studer nickte und nickte: natürlich, die Kompetenzen! … »Was hatten Sie für einen Grund, den Eingelieferten, den ordnungsmäßig eingelieferten Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen? Ich will ja gerne zugeben, dass Ihr Besuch höchst opportun gewesen ist – das will aber noch nicht sagen, dass er sich mit dem Kompetenzbereich der Fahndungspolizei gedeckt hat. Denn, Herr Wachtmeister, Sie sind schon lange genug im Dienste, um zu wissen, dass ein fruchtbares Zusammenarbeiten der diversen Instanzen nur dann möglich ist, wenn jede darauf sieht, dass sie sich streng in den Grenzen ihres Kompetenzbereiches hält …«

      Nicht einmal, nein, dreimal das Wort Kompetenz … Studer war im Bild. Das trifft sich günstig, dachte er, das sind die Bösesten nicht, die immer mit der Kompetenz aufrücken. Man muss nur freundlich zu ihnen sein und sie recht ernst nehmen, dann fressen sie einem aus der Hand …

      »Natürlich, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer, und seine Stimme drückte Sanftmut und Respekt aus, »ich bin mir bewusst, dass ich wahr- und wahrhaftig meine Kompetenzen überschritten habe. Sie stellten ganz richtig fest, dass ich es bei der Einlieferung des Häftlings Schlumpf Erwin hätte bewenden lassen sollen. Und dann – ja, Herr Untersuchungsrichter, der Mensch ist schwach – dann dachte ich, dass der Fall vielleicht doch nicht so klar liege, wie ich es anfangs angenommen hatte. Es könnte möglich sein, dachte ich, dass eine weitere Untersuchung des Falles sich als nötig erweisen würde und dass ich vielleicht mit deren Verfolgung betraut werden könnte, und da wollte ich im Bilde sein …«

      Der Untersuchungsrichter war sichtlich schon versöhnt.

      »Aber, Wachtmeister«, sagte er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließlich, wenn dieser Schlumpf sich auch erhängt hätte, das Malheur wäre nicht groß gewesen – ich wäre eine unangenehme Sache los geworden, und der Staat hätte keine Gerichtskosten zu tragen brauchen