Gesten der Freundschaft und des Entgegenkommens waren da gefragt. Die Heiligsprechung Karls des Großen war eine von ihnen. Sie stützte sich auf den im Westen und im Umfeld des französischen Königtums wieder erstarkenden Karlsmythos, dem sie nun den Heiligen an die Seite stellte. Papst Paschal III., das kaiserliche Geschöpf, sanktionierte sie. Sie galt dem „starken Kämpfer für die Verbreitung des Christenglaubens und die Bekehrung der Barbaren, dem wahren Apostel“, wie eine Kaiserurkunde für Aachen festhielt: die Bekehrung nämlich Sachsens, Frieslands, Westphalens, auch der Spanier und Basken mit Predigt und Schwert; das Letzte erinnerte natürlich an den Komplex um Karls Paladin Roland. Die politische Realität folgte dem kulturellen Gedächtnis, wie es die Lieder verbreiteten. Karls täglicher Wille, für die Bekehrung der Ungläubigen den Tod zu erleiden, hätte ihn zum Märtyrer gemacht. Betrieben aber wurde die Heiligsprechung nicht zuletzt „zur Stärkung des Römischen Reiches“.23 Das Ergebnis war – das verrät die ungewöhnliche und höchst brisante Intervention des englischen Königs – ein unverhohlener Affront gegen den französischen Lehnsherrn dieses Königs, vielleicht gar eine versteckte Drohgebärde gegen denselben und auf jeden Fall eine politische Demonstration im Gewand eines Heiligenkultes. Derselbe vermochte sich von diesem Makel nie recht zu befreien.
Zu Kultzwecken bedurfte es einer Heiligen-Vita. Friedrich gab auch sie in Auftrag. Der Aachener Kanoniker, der sich der Sache annahm, mühte sich redlich, der Überlieferung geeignetes Material zu entnehmen. Einhards höchst profanes Karlsleben lieferte bloß einen äußeren Rahmen. Pseudo-Turpin indessen, die legendäre Jerusalemfahrt und die Reliquienbeschreibung aus Saint-Denis boten reichlich Stoff. Aus diesen Schriften komponierte er sein Werk. Es geriet mehr zu einer akademischen Übung denn zu einem Zeugnis literarischer Gestaltungsgabe, königlicher oder volkstümlicher Frömmigkeit. Große Wirkung blieb dieser Biografie versagt. Weite Verbreitung fand sie ebenso wenig. Volkssprachliche Versionen sind unbekannt. Gleichwohl, Karl trat nun nicht nur als Glaubensbringer, sondern als Wundertäter und Heiliger in Erscheinung.
Allein in Aachen, und in Frankfurt, etablierte sich der Kult rasch und dauerhaft. „Du warst Licht und Edelstein der Kirche Christi, Karl, Blüte der Könige, Zierde des Erdkreises und Gleisspur der Gesetze“ verkündete der Karlsschrein im Aachener Münster zu Beginn des 13. Jahrhunderts:
ECCLESIE CHRISTI TU LUX TU GEMMA FUISTI KAROLE FLOS REGUM DECUS ORBIS ET ORBITA LEGUM.
Andernorts bedurfte es des Friedens von Venedig (1177), mit dem sich der Rotbart Papst Alexander III. unterwarf, um Karls Heiligkeit ein wenig heller auf leuchten zu lassen. Der englische König hatte, entgegen den Hoffnungen des Kaisers, den rechtmäßigen Papst weder verlassen noch den Kult des neuen Heiligen, um dessen Erhebung er so eindringlich gebeten haben soll, eigens gefordert.
Nicht einmal das staufische Königshaus selbst verehrte den hl. Karl den Großen in besonderer Weise, obgleich Friedrich I. Aachen seinetwegen mit reichen Gaben bedachte und sein gleichnamiger Enkel im Jahr 1215 den letzten, noch fehlenden Nagel in den Aachener Karlsschrein trieb und diesen damit seiner Bestimmung übergab. Doch hatte der junge König auffallenderweise an der vorausgegangenen Translation nicht teilgenommen. So hallten diese Hammerschläge als eine weithin schallende Geste der Aneignung des anspruchsschweren Kleinods durch das Aachener Münster. Sie sollten vor allem das Ohr von Friedrichs Gegner, Kaiser Otto IV., treffen, der vom nahen Köln aus ohnmächtig zusehen und den jugendlichen Staufer in Aachen gewähren lassen musste, obwohl Otto den kostbaren Schrein maßgeblich mitfinanziert haben dürfte. Abermals begnügte sich der Staufer mit einer bloßen Propagandaaktion ohne tieferes religiöses Bedürfnis und ohne kultgeschichtliche Konsequenzen.
Ein volkstümlicher Heiliger wurde Karl auf diese Weise nie – ganz im Unterschied zu der profanen Heroen- und Sagengestalt, als die er weithin im Gedächtnis der Schulmeister und des Volkes lebte. 1233 erhielt immerhin das Stift St. Felix und Regula in Zürich einige Karlsreliquien, worauf sich auch dort ein bescheidener Kult ausbreitete. Allein den Sachsen, jedenfalls den Lateinkundigen unter ihnen, galt Karl als Glaubensbringer, als ihr Apostel, Saxonum apostolus, so wie ihn jetzt, im 13. Jahrhundert, die Halberstädter Bischofschronik24 auch der eine oder andere Hymnus in Erinnerung bringen sollten: Saxeae gentis apostolus.25 Mehrere Bistümer – neben Halberstadt Osnabrück, Paderborn, Münster, Minden und Hildesheim – verehrten ihn als (Mit-)Patron; in anderen verbreitete sich wenigstens der Kult, auch wenn Zeugnisse eines lebendigen Volksglaubens fehlen. So blieb es, bis die Reformation abermals neue Verhältnisse schuf.
Höchst zögerlich indessen wurde der Karlskult in Frankreich übernommen, obgleich dort im 12. Jahrhundert alles auf ihn zuzueilen schien. Barbarossas Aktion hatte schier unüberwindbare Dämme gegen ihn errichtet. Es bedurfte zweier Jahrhunderte, bevor der hl. Karl sich dort zu etablieren vermochte, dann freilich dauerhafter als im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Karl blieb im Westen noch lange der französisch-königliche Heros, ein großer, machtvoller Helfer und Förderer der Kirche zwar, eine „zweite Sonne“, doch kein Heiliger. Sein Tod habe den ganzen römischen Erdkreis in Trauer gestürzt. „Großer Trost für Frankreich und das römische Imperium aber ist, dass überall sein Gedächtnis in schönster Blüte steht und die schmetternde Tuba das Gehörte schrecklich der ganzen Welt ertönen und im Rühmen seiner Taten auferstehen lässt.“26 Mehr war nicht zu vernehmen.
Der religiöse Kult wird erst für den gelehrten französischen König Karl V. bezeugt, den Zeitgenossen des römischen Kaisers Karl IV. Es war gewiss kein Zufall. Der Heiligenkalender des Königs verzeichnete nun zwei Karlsfeste: zum 28. Januar, dem Todestag, und zum 30. Juli, dem Tag der Translation. Doch nicht nur in der Saint-Chapelle zu Paris hielt der Karlskult jetzt seinen Einzug. Zahlreiche französische Kirchen, Reims, Rouen, Narbonne und andere schlossen sich an. „O Zierde der Kirche, frommer König der Franzosen, Muster an Gerechtigkeit, bitte, Vater Karl, für dieses sündige Volk“, heißt es im Missale der Krönungskirche von Reims von 1505.27 So betete man bis zur großen Revolution und noch länger im 19. Jahrhundert. Volkstümlich wurde aber auch hier der Karlskult nicht.
Der Luxemburger aber auf dem Kaiserthron, Karl IV., suchte zu heilen, was seine staufischen Vorgänger unterlassen hatten. Er, der König von Böhmen werden sollte und einst auf den Namen Wenzel getauft worden war, wechselte den Namen, wählte sich bei seiner Firmung in Paris den heiligen Karl zum Patron und regierte als Karl IV. das römische Reich. Karls Kirche in Aachen, das Marienmünster, auch die Wahlkirche der Könige in Frankfurt bedachte er in der Verehrung seines Heiligen mit reichen Gaben. So erweist sich das 14. Jahrhundert als eine dreifache „Karls-Epoche“: im Westen, im Osten und im Himmelreich.
DER HEROS DER DICHTER UND LITERATEN
Die deutschen wie auch die französischen Dichter haben Karl zu keiner Zeit vergessen. Eine reiche Fülle überlieferter Lieder und „Chansons de geste“ kündet davon. Wenigstens kurz sei darauf noch eingegangen. Karl erschien als der ideale König, als das Vorbild christlicher Ritterschaft. Hervorgehoben sei allein das Rolandslied, das in zahlreiche Sprachen Eingang fand, während der sonstige, geradezu überbordende Schatz der französischen „Gestes de Charlemagne“ oder „Gestes du roi“ übergangen werden muss. Keine von ihnen feierte den Heiligen.
In Deutschland beginnt – von der Kaiserchronik abgesehen, in der Karl bereits von Heiligkeit umflort erscheint – die nicht eben üppige Reihe der Karlsdichtungen mit dem Rolandslied des Regensburger Pfaffen Konrad, einer Weiterdichtung der französischen Chanson de Roland, die ihrerseits auf mündliche Traditionen zurückführt, wie sie etwa in der sogenannten Nota Emilia- nensis aus dem spanischen Kloster S. Millan de la Cogolla aufscheint. Der Stoff der deutschsprachigen Karlsepik kam somit ebenfalls aus dem Westen; er hatte sich schon dort mit der Kreuzzugsdichtung vereint. Das Epos wurde auf Bitten der Herzogin Mathilde gedichtet, der in Westfrankreich erzogenen englischen Königstochter und Gemahlin Heinrichs des Löwen. Sie brachte das Lied aus ihrer Heimat ins Sachsenland und nach Bayern mit, wo es dann über den Umweg einer lateinischen Übersetzung mühsam ins Deutsche übertragen wurde. Weite Verbreitung fand es nicht. Daneben sind allein der in der