Tom ging um den Tisch herum. Vor Ben Warthon blieb er stehen. Der erhob sich von seinem Platz und funkelte Tom zornig an. An seinem linken Handgelenk hing die Kette nach unten.
Tom Calhoun griff nach einem Hocker und schob ihn an den Pfosten. Er wollte sich gerade umwenden, als er aus dem Augenwinkel sah, wie Ben ausholte und ihm gegen den Kopf schlagen wollte. Blitzschnell duckte sich Tom unter dem Schlag hinweg. Seine Linke schnellte vorwärts und stieß den Jungen auf den Hocker.
„Du tust dir selbst einen großen Gefallen. wenn du das nicht wieder versuchst, Ben“, sagte er. „Weaver hätte dir ein Loch in den Kopf geschossen, wenn du mich niedergeschlagen hättest. Nicht wahr?“ Tom blickte den alten Deputy fragend an.
„Stimmt genau“, erwiderte Weaver. Dann ließ er die Hand mit dem bereits gezogenen Revolver sinken und schob ihn in die Halfter.
Ein wildes Flackern stand in den Augen des jungen, hitzigen Texaners.
„Wissen Sie, was ich an Ihnen hasse, Calhoun?“, stieß er hervor.
„Keine Ahnung.“
„Ihre verdammte, satte Selbstzufriedenheit. damit Sie es ganz genau wissen.“
Tom Calhoun zog ihm die Hände hinter dem Pfosten zusammen und ließ die Handschelle einschnappen. Dann trat er vor seinen Gefangenen und sagte: „Das ist dein gutes Recht, mein Junge. Jeder hat das Recht, über andere anders zu denken, als die es selbst tun. Du kannst das alles auch Richter Douglas in Shelton Falls erzählen. Aber eines solltest du dabei nicht vergessen: Die Wahrheit über die andere Geschichte.“
Tom blickte zum Tisch hinüber. Sam Cory gähnte gelangweilt. Da ging Tom Calhoun hinüber und griff nach der Lehne eines Stuhles.
„Es ist Zeit, schlafen zu gehen, was?“, fragte der Spieler. „Oder sind Sie noch nicht müde?“
„Glauben Sie wirklich, es ginge danach, Cory?“, fragte Tom Calhoun. „Sie übernehmen mit mir die letzte Wache, damit Sie klarsehen.“
„Meinen Sie mich?“
„Natürlich, Cory.“
Der Spieler lachte, aber es klang rau und irgendwie gekünstelt.
„Sie vergessen etwas, Calhoun. Ich bin ein Fahrgast der Postgesellschaft und übernehme somit keinerlei Pflichten. Das Geld und Ihr Gefangener gehen mich nicht das mindeste an.“
„Jetzt haben Sie etwas vergessen, Cory. Sie haben versprochen, mir zu helfen.“
„Und ich?“, fragte das Barmädchen. „Muss ich mich etwa auch beteiligen?“
„Nein, Sie brauchen nicht zu helfen, Miss Starr. Die erste Wache übernehme ich mit dem Fahrer. Weaver und der Stationer kommen als zweite dran. Cory und ich als dritte.“
„Dann übernehmen Sie zwei Wachen“, sagte der Spieler.
„Genauso ist es.“
„Demnach ist Weaver der einzige, den Sie nicht verdächtigen, Calhoun. Außer ihm steht jeder in dem Verdacht, sich des Geldes bemächtigen zu wollen.“
„Ich glaube, dass es das Beste ist, wenn gar keiner erst der Gefahr ausgesetzt wird, sich über das Geld unnötige Gedanken zu machen. Wenn es soweit ist, werde ich Sie wecken, Cory.“
Der Spieler griff in seine Westentasche und holte eine seiner langen, dünnen Zigarren hervor. Er klemmte sie zwischen die Lippen, riss ein Schwefelholz über die Stuhllehne und brannte die Zigarre an.
Tom Calhoun hatte den Stationsraum verlassen. Sein Blick fiel auf die abgestellte Kutsche. Als er neben dem Brunnen stehenblieb, hörte er hinter sich Schritte, die sich schlurfend näherten. Es war der Kutscher, der sich neben Tom an den Brunnenrand lehnte. Aus dem Stall drang das Stampfen der Pferdehufe zu ihnen herüber.
„Mr. Calhoun, die Tasche mit dem Geld liegt noch auf dem Tisch.“
„Ja, ich weiß.“
„Glauben Sie wirklich, dass sie dort gut aufgehoben ist?“
„Weaver ist bei ihr. Er wird auf sie aufpassen. Ich denke, dass sie uns hier nicht abhanden kommen kann. Gehen Sie da hinüber und bleiben Sie nur auf Ihrer Seite!“
Tom machte auf dem Absatz kehrt, ging um den Brunnen herum und sprang auf die Laufplanke hinter dem Palisadenzaun.
Inzwischen war der Mond aufgegangen und ergoss sein milchiges Licht über das Land. Tom konnte in der Ferne die schwachen Umrisse der Hügel erkennen. Links von der Station erstreckte sich ein kleines Zederngehölz. Nichts regte sich da draußen, doch er wusste, dass sie kommen würden — irgendwann und irgendwo.
*
Weaver erhob sich von seinem Stuhl, griff nach der Tasche und nahm sie an sich.
Cory bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen. Doch als sich die Hand des Mädchens auf seinen Unterarm legte, presste er sie wieder fest aufeinander.
Weaver ging, ohne sich noch einmal umzublicken, auf den Schlafraum zu. Er schlug eine der als Abtrennung dienenden Decken zurück und verschwand dahinter. Als die Decke hinter ihm wieder herabfiel, stieg eine kleine Staubwolke zu den Dachbalken empor.
Anny Harper schaute auf die Tür. Plötzlich erhob sie sich und ging auf sie zu.
„Anny, wohin gehst du?“, fragte der Stationer.
Das Mädchen wandte sich um.
„Ich gehe zu Tom Calhoun, Vater“, erwiderte Anny. „Ich werde ihm sagen, dass er ein grausamer Mensch ist.“ Sie blickte zu Ben Warthon hinüber. „Schau doch hin. Er hat den Jungen an den Pfosten gebunden. Dort soll er die ganze Nacht sitzen. Das verstehe ich nicht. Ich habe ihn ganz anders eingeschätzt.“
„Er hat keine andere Wahl, Anny. Der Junge ist ein Posträuber. Das solltest du dabei nicht übersehen.“
„Er sagt, dass er damit nichts zu tun hat.“
„Hast du schon einmal erlebt, dass einer, den man geschnappt hat, etwas anderes sagte? Hinterher wissen sie von nichts. Bleib hier. Tom Calhoun macht so etwas nicht, ohne einen zwingenden Grund zu haben. Ein müder Gefangener ist ihm vielleicht lieber. Wenn der Junge frisch und ausgeruht ist. kommt er vielleicht immer wieder auf neue Ideen.“
Mit gefurchter Stirn durchquerte Anny den Raum. Die Worte Harpers schienen sie nicht restlos überzeugt zu haben. Sie ging in die Küche. Gleich darauf drang das Klappern von Geschirr durch die angelehnte Tür, und der Duft gebratenen Fleisches breitete sich aus.
Zwischen zwei der herabhängenden Decken war ein kleiner, freier Spalt. Durch ihn konnte Cory sehen, dass sich Weaver niedergelegt hatte. Unter der Decke, mit der er sich zugedeckt hatte, zeichnete sich deutlich die Stelle ab, unter der die Satteltasche lag.
„Sieh doch nicht so auffällig hin“, flüsterte ihm das Mädchen zu. Sie waren mit Ben Warthon allein, denn auch der Stationer hatte den Raum verlassen. „Sam, ich muss dir noch etwas sagen.“
„Was?“
„Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht.“
„Hör auf, Lola. Ich muss es tun. Du weißt, dass ich das Geld als Betriebskapital brauche.“
„Das meinte ich nicht. Wir hatten noch etwas anderes besprochen. Oder weißt du es nicht mehr?“
„Ich habe es nicht vergessen, Lola“, gab er flüsternd zurück, so dass es für Ben Warthon unmöglich war, etwas