Dass ich diese Zeit im teuren München ohne die finanzielle Unterstützung meiner Eltern niemals überstanden hätte, war für mich damals zweitrangig. Hauptsache, in meinem Lebenslauf stand später, dass ich im Hilton gearbeitet hatte, das machte sich gut und öffnete mir vielleicht andere Türen. So war damals meine Einstellung … bis zum Jahre 2006.
Die »kleine« Bretterbude in Wannsee
Kurz vor der Fußball-WM 2006 bekam ich einen Anruf von meinem Vater aus Berlin: »Jessica, wir haben gerade das Angebot bekommen, die Gastronomie im Strandbad Wannsee zu übernehmen, Europas größtem Strandbad. Hast du Lust, das mit aufzubauen und zu führen?«
Ich war völlig überrascht und musste erst mal nachdenken. Schließlich hatte ich ganz andere Pläne. Ich wollte durch die Welt reisen und Managerin bzw. Direktorin in einem Hotel werden. Doch der Gedanke »Dieses Angebot kriegst du nur einmal in deinem Leben, und zwar JETZT und nicht, wenn du vielleicht irgendwann mal Lust dazu hast oder bereit dazu bist« ließ mich nicht mehr los. Also sagte ich zu und musste innerhalb von zwei Wochen meine Zelte in München abbrechen und meinen Job und meine Wohnung kündigen.
Es war ein unglaublich schöner und heißer Sommer, acht Wochen täglich gefühlt 30 Grad, immer blauer Himmel. An dem 1,2 Kilometer langen Sandstrand am Wannsee lagen die Badegäste wie die Sardinen am Strand auf Mallorca, fast Handtuch an Handtuch, und stritten sich schon frühmorgens um die besten Plätze.
An meinem ersten Arbeitstag, einem Montag, kam ich um 9 Uhr im Strandbad an. Ich hatte mit einer coolen Location gerechnet, doch da war nur ein Verkaufsstand im Freien. Das Ganze glich ehrlich gesagt eher einer Bretterbude.
Die Arbeitsatmosphäre ließ wirklich zu wünschen übrig, bis auf den sensationellen Ausblick war eigentlich gar nichts schön: ein Imbiss im Freien, eine Außenstation, Tische mit Lackfolie, Fritteuse unter freiem Himmel, sandig, eng, Plastikdach oben drüber, da fühlte man sich bei den Temperaturen wie im Gewächshaus. Doch die Mitarbeiter wuchsen leider nicht … Ich war erst mal geschockt.
30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mein Vater erwarteten mich. Ich war 21 Jahre alt und er stellte mich mit folgenden Worten vor: »So, das ist jetzt eure neue Chefin, Frau Bernsteiner (damals noch). Sie ist eure Ansprechpartnerin.« Da war ich zum zweiten Mal geschockt. Alle sahen mich kritisch an und ich konnte ihnen ihre Gedanken am Gesicht ablesen: »Blondie, Tochter vom Chef. Was will die uns denn jetzt bitte schön sagen?«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie ein Team geführt; ich wusste rein gar nichts, weder, worauf es dabei ankommt noch wie ich mich durchsetzen konnte. Die Mitarbeiter waren teilweise so alt wie ich oder sogar älter. Manche waren mit mir in die Grundschule gegangen – und jetzt musste ich alle mit »Sie« ansprechen und umgekehrt natürlich auch. Das war total crazy. Ich musste mir schließlich erst mal Respekt verschaffen. Nur wie?
Zum Glück hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Jeden Tag hatten wir es mit 8000 bis 10 000 Gästen zu tun. Mir blieb nichts anderes übrig, als einfach zu machen. Wie so oft im Leben – Augen zu und durch.
Gegenwind und plötzliche Krankheitsausfälle statt Respekt
Natürlich haben wir nicht ewig im Freien gearbeitet. Schon ein Jahr später durften wir in einer Nacht- und Nebelaktion in die inzwischen fertigen Räume einziehen. Wir bekamen eine Ladenstraße mit beeindruckenden 200 Metern Verkaufsstand – von der Eisdiele über den Imbiss und das Strandcafé bis zur Pizzeria war endlich alles da. Auch ich durfte meinen Ideen freien Lauf lassen, bei der Konzeption mitwirken und von den Produkten bis zu den einzelnen Arbeitsprozessen überall mitentscheiden.
Als vom Wetter abhängiges Saisongeschäft standen wir alle unter enorm hohem Druck. Dazu kam: Ich wollte meinem überaus mächtigen Vater täglich beweisen, dass ich es auch draufhabe. Das war ein Kampf. An manchen Tagen dachte ich: So, heute habe ich alles richtig gemacht. Ich habe mit dem Team die Tresen mit den frischen Brötchen und saftigen Kuchen schön eingeräumt. Unser Mise en Place war unserer Ansicht nach perfekt vorbereitet und wir legten los und verkauften. Ich war morgens immer die Erste und abends die Letzte und hatte keinen freien Tag. Ich wollte als Vorbild vorangehen, in der Hoffnung, dadurch von meinem Team mehr Respekt und Anerkennung zu erhalten.
Doch immer wieder fegte mein Vater wie ein Tsunami brüllend durch die Läden. Kleine Kostprobe gefällig? Ob denn hier keiner sein Gehirn eingeschaltet hätte und niemand sehen würde, dass es fast keine Brezeln mehr gab und dass die Kühlschränke nachgefüllt werden müssten? Die Schilder könnte ja kein Mensch lesen, vor dem Eisladen stünde eine riesige Schlange und was ich denn hier für Idioten beschäftigte, die sich bewegten wie einarmige Banditen. Und so weiter und so fort.
Es gab immer Gegenwind. Jeden Tag. Das Team und ich fühlten uns nicht gut genug. Verzweiflung machte sich breit. Wir dachten: »Egal, was wir tun, es ist immer falsch.« Ich lag nachts wach und überlegte, warum er wohl am nächsten Tag wieder toben könnte; ich stellte mir einen Plan zusammen, der oft nicht funktionierte, da mein Vater doch immer irgendwas fand – wie die Nadel im Heuhaufen. Auch die Mitarbeiter litten sehr unter diesen Attacken, was dazu führte, dass sich einige regelmäßig krankmeldeten – natürlich immer pünktlich zum Wochenende mit Ausreden wie: »Ich habe Magen-Darm-Grippe« oder »Meine Oma feiert ihren 80. Geburtstag« (zum zweiten Mal, wohlgemerkt!). Es war einfach zermürbend.
Jeder weiß, wie fatal es ist, wenn plötzlich zu wenige Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Damals, während der Fußball-WM, fehlte es ohnehin an allen Ecken und Enden an gut ausgebildeten Fachkräften. Und es gab einfach zu wenige, die bei 30 Grad im Strandbad arbeiten und schwitzen wollten. Mir blieb also nichts anderes übrig, als erst mal selbst für zwei oder sogar drei zu arbeiten.
Das ist Männersache – Von der kleinen Tochter zur erfolgreichen Unternehmerin mit Herz
Ich merkte schnell, dass hier etwas gründlich falsch lief. Und so wollte ich das nicht. Es mussten neue Ideen her, um die verfahrene Situation zu verbessern. Ich begann damit, die Teammitglieder in mehrere Bereiche einzuarbeiten – zum Beispiel am Grill oder in der Küche –, um nicht immer von einzelnen Personen und deren Know-how abhängig zu sein. Das klappte auch ganz gut … bis der Tsunami in Gestalt meines Vaters uns wieder plattmachte, denn auch das passte ihm nicht. In seiner Welt hatte jeder immer an seinem vorbestimmten Arbeitsplatz zu bleiben. Und Frauen am Grill oder in der Küche, das ging gar nicht. Auch das Wechseln von Bierfässern oder Fritteusenfett war ausschließlich Männersache. Daraufhin warfen weitere Mitarbeiter entnervt das Handtuch und ich durfte wieder von vorne anfangen. Damals habe ich mir geschworen: Wenn ich mal ein eigenes Restaurant habe, wird das alles anders laufen!
Doch zunächst vergingen noch ein paar Jahre unter den geschilderten unguten Bedingungen. Selbst bei super anstrengenden Großveranstaltungen mit bis zu 35 000 Gästen (zum Beispiel bei »Energy in the Park«) gelang es dem Tsunami, uns mit seinen Überraschungsangriffen die Stimmung zu vermiesen und die Motivation zu nehmen.
Natürlich hat es auch schöne Tage gegeben und ich habe in diesen Jahren viel Positives und Wertvolles von meinem Vater gelernt. Und ich kann heute sagen: Ich bin dankbar dafür. Ich habe mir das Beste abgeschaut, es umgesetzt und einfach gemacht, bis es auch mich zum Erfolg geführt hat. Nur in Sachen Mitarbeiterführung kamen wir einfach nicht auf einen Nenner. In diesen Jahren habe ich mich immer wieder bei meiner Mutter ausgeheult und wollte aufhören. Sie sprach mir gut zu und ermutigte mich immer wieder, durchzuhalten und weiterzumachen. Sie ist