Einer von Johsts Bewunderern war Josef Magnus Wehner, der wie Gerhard Schumann und Eberhard Wolfgang Möller als Hoffnungsträger einer nationalsozialistisch inspirierten Dichtung galt. Alle drei gehörten der NSDAP an, die beiden Letzteren zudem der SS. Wehner, Jahrgang 1891 und Kriegsveteran, hatte mit seinem anti-pazifistischen Roman Sieben vor Verdun (1930) Ruhm geerntet. Es war ein Buch im Geiste des kriegsverherrlichenden Werks von Heinrich Zerkaulen und erlebte im Dritten Reich viele Auflagen. In München war Wehner als Theaterkritiker und Theoretiker nicht ohne Einfluss.209 Gerhard Schumann (geb. 1911), ein junges Talent, das bereits 1936 einen Staatspreis erhielt, zeichnete zwei Jahre darauf in seinem Schauspiel Die Entscheidung die Moral von Freikorpskämpfern als Antithese zur angeblichen Intrigenwirtschaft in der Weimarer Republik. Sein Protagonist, ein ehemaliger kaiserlicher Oberst, wird 1920 von kommunistischen Aufständischen umgebracht.210 Wie der fünf Jahre ältere Eberhard Wolfgang Möller war Schumann im Propagandaministerium tätig. Möller, Gewinner des Nationalen Buchpreises, verfasste u. a. das Schauspiel Der Untergang Karthagos (1938). Das mit expressionistischen Anklängen durchsetzte Stück schildert die Phönizier im Moment der Bereitschaft, sich den römischen Invasoren zu ergeben. Die Phönizier tragen »jüdische« Züge, und ihr Stadtstaat soll als Korruptionsnest an Weimar erinnern.211
Besonderes Lob erhielt Möller als Autor des Thingspiels Das Frankenburger Würfelspiel, das 1936 auf der Dietrich-Eckart-Freilichtbühne Premiere feierte. Diese Bühne war der letzte Außenposten der 1934 gegründeten Thingspielbewegung, die das Ziel hatte, bei ihren Aufführungen das Publikum als »Volksgemeinschaft« in nuce in die Handlung mit einzubeziehen. Das Thingspiel enthielt Elemente des altgriechischen Theaters und besaß Wurzeln in der deutschen Jugendbewegung, vor allem aber in einer älteren nationalistischen Theaterreform durch die völkischen Dramenschreiber Adolf Bartels, Ernst Wachler und Friedrich Lienhard, die schon in der wilhelminischen Epoche mit Bühnenexperimenten anhand von klassischen Stücken, aufgeführt unter freiem Himmel, begonnen, damit jedoch keine dauerhaften Erfolge erzielt hatten.212 Thingstätten waren altgermanische Gerichtsstätten; die Nationalsozialisten nahmen an, dass dort auch gemeinschaftliche Theateraufführungen stattgefunden hatten.213
Für 1934 hatten überzeugte Nationalsozialisten deutschlandweit Thingspiele vorgesehen, als theatralische Reminiszenzen an die frühe Bewegung, unter Beteiligung des Publikums und in naturnaher Umgebung, am Stadtrand oder außerhalb, wie auf Heidelbergs Heiligem Berg. Thingspiele waren als nordisches chorisches Theater konzipiert; es sollte hymnisch, mythisch und kultisch zugehen. Großgruppen von Schauspielern sangen, dirigiert von Chorleitern, einstimmig. SA- und HJ-Angehörige zogen, begleitet von Fanfarenmusik, in großer Zahl auf und sollten so an die offiziellen Parteiveranstaltungen wie den jährlich im September stattfindenden Parteitag erinnern oder an die Partei- und Olympiafilme von Leni Riefenstahl, wenn auch in kleinerem Maßstab und schlechter choreographiert.214 Diese Großveranstaltungen eröffneten arbeitslosen Schauspielern, die nun vor Zehntausenden Zuschauern auftreten konnten, neue Beschäftigungschancen.215
Das letzte – und wahrscheinlich erfolgreichste – der offiziell veranstalteten Thingspiele, das Frankenburger Würfelspiel, fand im Sommer 1936 in Berlin statt.216 Möller beschwor eine mittelalterliche Gerichtsverhandlung gegen verräterische Bauern in Süddeutschland herauf, denen man schließlich erlaubt, um ihr Leben zu würfeln. Am Ende taucht ein schwarzer Ritter auf, der nicht die Bauern für schuldig erklärt, sondern ihre Feudalherren. Die »Volksgenossen« konnten in dem Ritter unschwer eine Inkarnation des »Führers« ausmachen.217
Als im Sommer 1936 ausländisches Publikum die Olympischen Spiele besuchte, aber mit einem Thing-Spektakel nichts anfangen konnte, hatte Goebbels bereits das Ende der Bewegung verkündet, und zwar schon im September 1935, ein gutes Jahr nach dem »Röhm-Putsch«, den Hitler zum Anlass nahm, jeder weiteren Revolution von unten eine Absage zu erteilen. Insofern hatte das Thingspiel ausgedient. Tatsächlich hatte es die Zustände in der Weimarer Republik kritisiert, und diese galten ja nun als erledigt.218 Außerdem hatte es hier und da Kritik aus der Partei gegeben. So wurde moniert, dass die Handlungen nicht originär entwickelt worden seien, sondern auf Hörspielfassungen beruhten. Offensichtlich wusste niemand, wie für dieses neue, ideologische Genre ein Stück zu schreiben sei. Dann wieder war bei Aufführungen die Hintergrundmusik zu laut, sodass der Chor unterging, oder die riesigen Lautsprecher waren nicht richtig eingestellt.219 Auch das Wetter hatte nicht immer gute Miene zum Thingspiel gemacht. So war es kein Wunder, dass die Deutschen, sofern sie nicht zum massenhaften Erscheinen gezwungen waren, die Lust an diesen Spielen mit ihrer »statischen und deklamatorischen Handlung« verloren. Der Bau von Spielstätten kam auch nicht recht voran. Hatte man Anfang 1934 noch 400 Stätten geplant, so standen zwei Jahre später gerade mal 14.220 Alles in allem hatte sich das Thingspiel als Fehlschlag erwiesen, und nach seinem Ableben sprach kein Mensch mehr davon.
Wie erging es im Vergleich dazu dem traditionellen Theater? Im Juni 1935 erklärte Goebbels öffentlich, es sei manchmal besser, »das gute und anerkannte Alte zu pflegen, als sich dem schlechten Neuen zu widmen, nur weil das Neue neu ist«.221 Im Theater brauchte Goebbels auch weiterhin die Klassiker, um einen wichtigen Teil der Bevölkerung – das Bildungsbürgertum – dauerhaft zu binden. Mittels der Klassiker konnte er das tun, was der berühmte Schauspieler Bernhard Minetti später bestritt: »Wir hätten«, formulierte er den Vorwurf, »die Diktatur durch Kunst legitimiert und verklärt, hätten der politischen Unkultur ein kulturelles Gesicht gegeben«.222 Goebbels selbst mag vielleicht populäre Schriftsteller wie Ludwig Thoma, dessen Komödie Moral er Ende 1936 an der Berliner Volksbühne inszenieren ließ, geschätzt haben, doch wusste er um die Notwendigkeit, die deutschen Klassiker, vor allem Schiller und Goethe, aber gelegentlich auch Naturalisten wie Hauptmann und Max Halbe nicht zu vernachlässigen. Immer möglich war natürlich Shakespeare, dessen Beliebtheit so groß war, dass selbst im 19. Jahrhundert die deutsche Elite ihn als »germanisch« für sich beanspruchte.223 Außerdem war es, gerade zu Beginn der NS-Diktatur, notwendig, wichtige ausländische Regierungen, vor allem in London und Paris, zu beeindrucken.
Und so wollte das Propagandaministerium die Klassiker zwar aufgeführt wissen, jedoch in neuem Geist und Stil. Wie das zu erreichen sein sollte, war nicht ganz klar, aber auf jeden Fall mussten naturalistische und expressionistische Inszenierungen à la Weimar vermieden werden, und auf der Bühne durfte das »Führerprinzip« nicht infrage gestellt werden. Dramaturgen und Regisseure waren also angehalten, eine überzeugende Version des »Führers« auf die Bühne zu bringen. Zudem sollte eine Aufpolierung des Starsystems das Ensemble als Miniaturausgabe der »Volksgemeinschaft« sichtbar werden lassen.224
Die Klassiker kamen mithin weiter zur Aufführung, und zwar fast so häufig wie in der Weimarer Republik. Etwa 20 Prozent der Stücke stammten entweder aus Schillers Feder – der die Liste anführte – oder aus jener Shakespeares und Goethes, dessen Kosmopolitentum führenden Nationalsozialisten indes ein Dorn im Auge war.225 Theater in Berlin, Dresden, Weimar und Koblenz demonstrierten die dauerhafte Bedeutung von Dramatikern der präfaschistischen Zeit, indem sie die Klassiker würdigten.226 Die Werke der neuen Generation von NS-Autoren fristeten lediglich ein Schattendasein, was für die erwiesene Qualität der Tradition ebenso sprach wie gegen die vor Ideologie triefenden Eiferer.
Musik
Die Nationalsozialisten hassten Jazz. Rosenberg sprach von »Niggerstep«, und Goebbels