Aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Bundesrepublik hat der Hamburger Historiker Axel Schildt eine Typologie von Erzählungen ihrer Geschichte skizziert.9 Die eher zeitgenössischen Entwürfe als reine Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte hat er dabei mit guten Gründen verworfen, übrig geblieben sind bei ihm Erzählungen als Modernisierungs-, als Westernisierungs- und als Belastungsgeschichte. Während die erste vor allem die sich rasch verändernden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und Strukturen der entstehenden Konsumgesellschaft betont, steht die zweite für die politische und kulturelle Westbindung im Kalten Krieg, die daraus resultierenden kulturellen Einflüsse und Liberalisierungsprozesse. Die dritte schließlich rückt den Bruch und die Konsequenzen in den Vordergrund, die sich aus der moralischen und materiellen Katastrophe des Jahres 1945 ergaben. Dieses komplementäre Raster soll im Folgenden dazu dienen, der Beziehung zwischen Loriot und der deutschen Gesellschaft ein wenig näherzukommen.
Witz im Wirtschaftswunder. Loriot und die Modernisierung der Bundesrepublik
Vielleicht am offensichtlichsten sind die Bezüge Loriots zur Geschichte der Bundesrepublik als Modernisierungserzählung. Das betrifft zum einen ihre Medialisierung, also die wachsende Bedeutung der populären Massenmedien und die Durchsetzung des Fernsehens. Denn vor allem den nun populären, visuellen Medien verdankte Loriot seinen Erfolg: Seine ersten Zeichnungen und Satiren erschienen in der illustrierten Presse, unter anderem im »Stern«, in »Weltbild« und »Quick«. Schon ab Mitte der 1960er Jahre kam dann das noch junge, in bildungsbürgerlichen Kreisen ebenfalls wenig geschätzte Fernsehen hinzu, wobei er dort zunächst besonders mit Trickfilmen vertreten war, einem Medium, das bis dato allenfalls Kinder adressierte. Sein erster Kinospielfilm hatte dagegen erst 1988 Premiere.
Zum anderen war die sich entfaltende Konsumgesellschaft eines der zentralen Themen von Loriot: Immer wieder ging es bei ihm mit durchaus kulturkritischem Unterton um ihre vermeintlichen Segnungen, etwa die verlogenen Versprechen der Werbung, um besinnungslosen Konsum, die fragwürdigen kulturellen Leistungen der Massenmedien oder die problematischen Auswüchse der individuellen Motorisierung und des zunehmenden Tourismus. Dies lässt sich besonders an seinen Cartoons aus den 1950er und 1960er Jahren festmachen, ebenso wie an seinen Beiträgen zur Quick-Kolumne »Der ganz offene Brief« (1957–1961). Doch selbst in den späteren Fernseharbeiten sind diese Themen noch sehr präsent: Man denke nur an den Vertreterbesuch bei Familie Hoppenstedt oder die durch eine Betonwüste irrende Touristenfamilie auf der Suche nach dem Strand.
Der Umgang mit diesen Phänomenen und ihren kulturellen Konsequenzen bildet ein Kernthema des Frühwerks. Dabei scheint es sich bei der Gesellschaft, die Loriot porträtiert, stets um eine Art »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« zu handeln, also Helmut Schelskys zeitgenössische Vorstellung einer hegemonialen Mittelschicht10 – andere Milieus spielen kaum eine Rolle. Gewandet sind seine Parodien allerdings oft im Stil der untergegangenen Welt des frühen 20. Jahrhunderts: Die Männer tragen Stresemann, Fliege und Bowler, die Frauen geblümtes Kleid, »hier gibt es noch Hörrohre, Haarknoten und das Haustier als Problem«.11 Jenes rückwärtsgewandte Dekor der frühen Bundesrepublik, an dem sich im Zuge der 68er-Bewegung oft die – freilich zu oberflächliche – Einschätzung als restaurativ festgemacht hat, es findet sich auch hier.
Die Komik Loriots in der frühen Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre kann somit einem prominenten konservativen Diskurs zugeordnet werden, der die Dynamik der Wirtschaftswunder-Gesellschaft mit Skepsis betrachtete. Aber er tat dies nicht nur in anderen, ›modernen‹ Medien und an anderen Orten als der tonangebende konservative Mainstream, sondern auch in einer demokratisierten Form. Denn anders als die traditionellen Eliten, denen es dabei immer auch um die Verteidigung ihres gesellschaftlichen Status zu tun war, ließ Loriot keinen Zweifel daran, dass er sich als Teil dieser Gesellschaft betrachtete: Als Mediennutzer, Konsument, Autobesitzer und sogar Hersteller von Werbefilmen war er selbst gleichermaßen Verursacher wie Opfer der von ihm karikierten Modernisierungsfolgen. Daher scheint das sozialgeschichtliche Etikett für die Entwicklung der frühen Bundesrepublik von einer »Modernisierung unter konservativen Auspizien« (Christoph Kleßmann)12 auch für Loriot zu passen.
Lachend auf dem langen Weg nach Westen?
Die Erzählung der kulturellen Westernisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik ist zweifellos eng an Phänomene wie die Entwicklung des Massenkonsums und ihre Medialisierung gebunden, nur ist sie stärker auf kulturelle Transfers, auf die Einflüsse aus den Gesellschaften der westlichen Siegermächte, Phänomene der ›Amerikanisierung‹ und ihrer Abwehr bezogen. Zeitgenössisch spielten dabei überkommene binäre, antagonistische Vorstellungen von Hoch- und Populärkultur eine zentrale Rolle. Die Anstrengungen der kulturellen Eliten richteten sich auf eine Geschmacksbildung der Bevölkerung, die sich am klassischen, nationalen hochkulturellen Kanon orientierte. Demgegenüber galt die Populärkultur als ›amerikanisch‹, als minderwertig, wenn nicht schädlich. Gerade die jungen Medien Comic und Fernsehen sahen sich entsprechenden Ressentiments ausgesetzt.
Es ist daher wenig überraschend, dass die frühen Arbeiten Loriots zunächst keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stießen, zumal sein Humor häufig auf Ironie basierte und bisweilen absurde Züge trug. Das betraf etwa die für den Stern 1953 entstandene Reihe »Auf den Hund gekommen«, deren Komik darauf beruhte, dass die Rollen von Menschen und Hunden konsequent vertauscht waren. Leser empfanden die Reihe damals als »ekelerregend und menschenunwürdig«, als »eine starke Herabsetzung des homo sapiens« und fragten, wann die »scheußlichen, menschenverhöhnenden Hundewitze« endlich aus dem Stern verschwänden.13 Offensichtlich stellte gerade diese Konstellation für manche Deutsche, die zwar den Krieg, nicht aber ihr Gefühl von Überlegenheit verloren hatten, eine schwer erträgliche Provokation dar. Der Protest war so stark, dass Chefredakteur Henri Nannen die Serie nach nur sieben Folgen aus dem Blatt warf. Kein deutscher Verlag wollte die Zeichnungen seinerzeit drucken, sie erschienen daher im neu gegründeten Schweizer Diogenes Verlag.
Wenig später erhielt Loriot auch vom Verlag der Zeitschriften »Quick« und »Weltbild« eine Kündigung, da »sich unsere Leser mehr und mehr gegen Ihren Stil ausgesprochen haben« und er der Bitte, sich »ein bisschen mehr am Geschmack unserer vielen Leser zu orientieren«, nicht entsprochen habe.14 Auch später noch wurden Loriots Zeichnungen als »seelisch geschädigt« und jugendgefährdend geschmäht, den Zeichner hätte ein Leser gern mit einem »kl. Fläschchen E 605« vergiftet.15 Das lag wohl auch daran, dass er der Prüderie und Bigotterie der Adenauer-Ära einen Spiegel vorhielt. Seine erste Sendung bei Radio Bremen nannte er »Loriots sauberer Bildschirm«, eine Anspielung auf die Mitte der 1960er Jahre gegründete Initiative »Aktion saubere Leinwand«, die sich gegen die Darstellung von Nacktheit und Sexualität im Film richtete. Und erkennbar hatte er Spaß daran, in dieser Sendung mit sinnfreien Nacktszenen und anzüglichen Doppeldeutigkeiten zu provozieren. Es war daher kein Wunder, dass er auch noch in den 1960er und 1970er Jahren Politiker und Kirchenvertreter gegen sich aufbrachte. Als besonderer Stein des Anstoßes erwies sich dabei der schwarze Humor seines Gedichtes »Advent«: Für die rechtsextreme »Deutsche Wochenzeitung« war die (erneute) Ausstrahlung in der letzten Folge seiner TV-Reihe bei Radio Bremen im Dezember 1978 sogar Anlass, nach dem Staatsanwalt zu rufen.16
Besonders die verbreiteten Vorstellungen von sehr weitreichenden, unmittelbaren Wirkungen der Medien wurden für Loriot zum Problem.