Candide. Voltaire. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Voltaire
Издательство: Bookwire
Серия: Klassiker der Weltliteratur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843801379
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den Nachbarort. Auch hier führte Candides Weg über zuckende Glieder und durch glimmende Trümmer, bis er endlich, im Schnappsack noch ein wenig Proviant und im Herzen unvermindert Fräulein Kunigunde, aus dem Kriegsgebiet hinauskam. So gelangte er nach Holland. Jetzt war sein Mundvorrat zwar aufgebraucht, aber er hatte gehört, dass in jenem Lande alle Leute reich seien und zudem gute Christen; deshalb glaubte er fest, dass es ihm dort ebenso wohl ergehen würde wie im Schlosse des gnädigen Herrn Barons, bevor man ihn der schönen Augen Fräulein Kunigundes wegen verjagt hatte. Er bat mehrere würdig steife Leute von Stand um ein Almosen; die aber erwiderten ihm alle, wenn er so weitermache, werde man ihn in die Besserungsanstalt stecken, um ihn Mores zu lehren. Dann wandte er sich an einen Mann, der gerade eine geschlagene Stunde lang vor einer großen Versammlung über Wohltätigkeit und Barmherzigkeit gesprochen hatte. Der Prediger schaute ihn schief an und fragte: »Weshalb kommt Ihr? Hoffentlich wie wir um der guten Sache willen?« – »Sogar um einer guten Ursache willen«, antwortete Candide scheu. »Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. Alles ist in notwendigem Zusammenhange miteinander verknüpft und aufs trefflichste eingerichtet. Ich musste aus Fräulein Kunigundes Nähe fortgejagt werden; ich musste Spießruten laufen; und jetzt muss ich um mein Brot betteln, bis ich wieder in der Lage bin, es mir durch Arbeit zu erwerben. All das konnte gar nicht anders sein.« – »Lieber Freund«, versetzte der Prediger, »glaubst du, dass der Papst der Antichrist ist? Ja oder nein?« – »Das wäre mir freilich neu; aber er mag es sein oder nicht – Hauptsache, ich habe Brot.« – »Du verdienst keines«, schimpfte der andere. »Mach dich fort, elender Schuft, und komme mir nie wieder vor die Augen!« Die Frau des Predigers schaute zum Fenster heraus, und als sie unten einen Menschen erblickte, der Zweifel daran hegte, dass der Papst der Antichrist sei, goss sie einen vollen Nachttopf über ihn aus. O Himmel, zu welchen Exzessen kann religiöser Eifer die Damen treiben!

      Die Szene beobachtete jemand, der nicht einmal getauft war: Jacob hieß der Brave, seines Glaubens ein Anabaptist oder Wiedertäufer. Er sah, wie grausam und schändlich man dort einen seiner Brüder traktierte, ein Wesen auf zwei Beinen ohne Federn, das immerhin eine Seele hatte. Er nahm ihn mit in sein Haus, wusch ihn, gab ihm Brot und Bier, schenkte ihm zwei Gulden und wollte ihn sogar in seiner Manufaktur für echt persische Bunttücher beschäftigen, die bekanntlich in Holland hergestellt werden. Candide verneigte sich vor Jacob, ja fiel ihm fast zu Füßen und rief: »Meister Pangloss hatte doch recht. Alles in der Welt ist aufs beste eingerichtet; denn Eure außerordentliche Güte berührt mich viel tiefer als die Härte, die ich von dem Herrn im schwarzen Mantel und seiner Gemahlin erfuhr!«

      Frohgemut ging Candide am nächsten Morgen spazieren. Da begegnete er einem kranken Bettler, einer wahren Lazarusfigur. Schwären bedeckten seine Haut; sein Blick war erloschen, die Nasenspitze weggefault; dazu hatte er einen schiefen Mund, kohlschwarze Zähne und eine heisere Stimme, die mehr gurgelte, ja röchelte, als dass sie sprach. Zudem plagte ihn ein heftiger Husten, wobei er bei jedem Anfall einen Zahn ausspie.

      VIERTES KAPITEL

       Wie Candide seinen alten Philosophielehrer Doktor Pangloss wiedertrifft und was sich daraus entwickelt

      Candides gutes Herz siegte letzten Endes über den Ekel, und er schenkte dem grausigen Bettler die beiden Gulden, die er von dem wackeren Wiedertäufer Jacob erhalten hatte. Das Phantom sah ihn starr an, dann brach es in Tränen aus und fiel Candide um den Hals, der entsetzt zurückfuhr. »Ach«, sprach da ein armer Teufel zum anderen, »kennt Ihr wirklich Euren guten Pangloss nicht mehr?« – »Was muss ich hören! Ihr, mein teurer Lehrer? Und in solch schauderhaftem Zustande? Wie kam es zu diesem Unglück? Warum seid Ihr nicht mehr im schönsten aller Schlösser? Was ist aus Fräulein Kunigunde geworden, der Perle unter den Mädchen, dem Meisterstück der Natur?« – »Ich kann nicht mehr«, stöhnte Pangloss. Candide führte ihn schleunigst in den Stall des Anabaptisten und gab ihm ein wenig Brot. Nachdem Pangloss sich etwas erholt hatte, fragte er ihn abermals: »Nun, wie steht’s mit Kunigunde?« – »Sie ist tot«, erwiderte der andere. Candide sank in Ohnmacht. Freund Jacob hatte zufällig eine Flasche schlechten Essig in seinem Stalle; er hielt Candide ein paar Tropfen unter die Nase, bis er das Bewusstsein wiedererlangte. Candide schlug entsetzt die Augen auf: »Kunigunde tot! O beste der Welten, wo bist du? Woran ist sie denn nur gestorben? Bestimmt doch aus Kummer über die schweren Fußtritte, mit denen mich ihr Herr Vater aus seinem schönen Schlosse hinaustrieb?« – »Nein. Bulgarische Soldaten haben sie erst vergewaltigt, bis sie nicht mehr konnten, und ihr dann den Bauch aufgeschlitzt. Dem Herrn Baron, der sie schützen wollte, haben sie den Schädel eingeschlagen. Die Frau Baronin hackten sie in Stücke. Dem Sohn, meinem armen Zögling, erging es genau wie seiner Schwester. Und das Schloss – da haben sie keinen Stein auf dem anderen gelassen. Nichts ist übriggeblieben, keine Scheune, kein Schaf, keine Ente, weder Baum noch Strauch. Aber wir wurden vollauf gerächt. Unweit gab es eine bulgarische Baronie; die Avaren sind hingezogen und haben dort getreulich das vollführt, was man zuvor uns angetan hatte.«

      Kaum hatte Pangloss seinen Bericht beendet, schwanden Candide schon wieder die Sinne. Endlich kam er zu sich. Er sagte ein paar teilnahmsvolle Worte, wie die Pflicht sie gebietet; dann erkundigte er sich nach dem zureichenden Grund für Pangloss’ Zustand; welche Ursache hatte eine so beklagenswerte Wirkung gezeitigt? »O weh«, seufzte der andere, »die Liebe war’s, die Liebe, die Trösterin der Menschheit, die Erhalterin allen Lebens, die Seele aller fühlenden Wesen, die Liebe war’s, eine Liebe voller Zärtlichkeit.« – »O weh«, seufzte nun seinerseits Candide, »die habe ich freilich auch kennengelernt, die Liebe, die Königin der Herzen, die Seele unserer Seele; leider hat sie mir bisher nichts eingebracht als einen Kuss und zwanzig Tritte in den Hintern. Und bei Euch? Wie konnte denn eine so schöne Ursache so abscheuliche Wirkungen hervorrufen?«

      Pangloss antwortete folgendermaßen: »Mein lieber Candide! Ihr kanntet doch sicher Paquette, die niedliche Zofe unserer erlauchten Frau Baronin? In ihren Armen habe ich die Wonnen des Paradieses genossen, und die haben das Höllenfeuer entfacht, von dem Ihr mich verzehrt seht. Paquette war mit diesem Übel infiziert. Vielleicht ist sie inzwischen schon daran gestorben. Paquette erhielt dieses Geschenk von einem hochgelahrten Franziskaner, der es sich – ganz gründlicher Forscher – aus einer Quelle geholt hatte, die bis zum Ursprung zurückführte. Er hatte es nämlich von einer alten Gräfin empfangen, die wiederum von einem Kavalleriehauptmann, der verdankte es einer Marquise, die einem Pagen, der einem Jesuiten, und der bezog es als Novize von einem direkten Nachkommen eines Schiffsgefährten des großen Christoph Columbus. Ich selbst werde es nicht mehr weitergeben, denn ich sterbe bald.«

      »O Pangloss!«, rief Candide, »welch sonderbarer Stammbaum! Sollte die Wurzel etwa der Teufel sein?« – »Behüte«, erwiderte der große Denker. »Dieses Übel ist für die beste aller Welten unentbehrlich, ein notwendiger Bestandteil. Denn hätte Columbus sich nicht auf einer der Inseln Amerikas diese Krankheit zugezogen, welche die Quelle der Zeugung vergiftet, ja selbige häufig sogar verhindert und dadurch offensichtlich dem großen Endzweck der Natur entgegenwirkt, hätten wir weder Schokolade noch Karminrot. Man beachte ferner, dass diese Krankheit bis zum heutigen Tage eine Eigentümlichkeit nur unseres Kontinents geblieben ist, wie die Glaubenskriege. Türken, Inder, Perser, Chinesen, Siamesen und Japaner kennen sie nicht. Noch nicht, denn es besteht ein zureichender Grund, dass sie die Plage in einigen Jahrhunderten ebenfalls kennenlernen werden. Inzwischen hat sie bei uns prächtige Fortschritte gemacht, zumal unter den wackeren, wohlerzogenen Söldnern jener großen Armeen, die über das Schicksal der Staaten und Völker entscheiden. Wenn in einer Schlacht zwei gleich große Heere gegeneinander antreten, sagen wir, dreißigtausend Mann hier, dreißigtausend Mann dort, so sind garantiert auf jeder Seite circa zwanzigtausend mit dieser Seuche behaftet.« – »Bewunderswert dargelegt«, versetzte Candide. »Aber jetzt erst einmal zu Euch! Ihr müsst schauen, dass Ihr wieder gesund werdet.« – »Wie soll das gehen?«, wandte Pangloss ein. »Ich besitze keinen roten Heller, mein Freund, und auf dem ganzen Erdenrund bekommt man keinen Aderlass und kein Klistier, wenn man nicht bezahlt oder jemand anderen findet, der für einen bezahlt.«

      Diese Worte brachten Candide auf einen Gedanken. Er eilte zu seinem Wohltäter, dem Wiedertäufer Jacob, dessen Barmherzigkeit er kannte, und schilderte ihm das Unglück, das seinen Freund getroffen hatte, derart ergreifend, dass der wackere Mann ohne Zaudern den